Vithursan Sivakumar (20) hat sich zum Abitur gekämpft.

Vithursan Sivakumar (20) hat sich zum Abitur gekämpft. © Althoff

Erst Förderschüler, jetzt Abi: Vithursan (20) hat es seinen Ex-Lehrern gezeigt

rnSchulabschluss

Abitur? Er? Lieber sollte Vithursan Sivakumar zur Förderschule. Doch der 20-jährige Dortmunder hat es allen bewiesen. Selbst einem, der schweren Herzens dachte: Das wird nichts, leider.

Dortmund

, 27.06.2022, 15:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Solche Geschichten sind eigentlich nicht vorgesehen im Bildungssystem. Oder anders: Sie kommen nicht vor, weil Schüler immer wieder abgestempelt werden und dann nicht mehr an sich glauben. Vithursan Sivakumar aber sagt: „Ich hatte immer das Potenzial.“

Es beginnt in der Kita. Der dreijährige Vithursan versteht nur einzelne Wörter, spricht selbst kaum. Zuhause redete man Tamilisch. Woher sollte er Deutsch können?

„Da ich so viele Probleme hatte, wurde ich zur Sprachtherapie geschickt“, erinnert sich der heute 20-Jährige. Vor der Grundschule, bei der Schuleingangsuntersuchung habe man festgestellt: Sonderpädagogische Förderung muss her.

Nach Klasse 4 heißt es: zur Förderschule

Neun Jahre wird das so bleiben. Manchmal hat Vithursan Unterricht im Nebenraum, dann wieder sitzt eine Fachkraft zur Unterstützung bei ihm. Viele Lehrer, sagt er, „haben nicht an mich geglaubt und mich immer weiter nach hinten geschoben.“ Am Ende von Klasse vier heißt es: Er soll zur Förderschule. „Aber meine Eltern haben Nein gesagt.“

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Sie fordern, ihr Junge soll auf eine Gesamtschule, doch die lehnt ab. „Meine Eltern haben dann Druck gemacht beim Schulamt und so bin ich auf die Realschule gekommen.“ Doch der Förderschwerpunkt bleibt – und in Klasse 7 erfährt Vithursan, was das heißt.

Einen Abschluss, wie er ihn sich vorstellt, werde er nicht machen dürfen. Vithursan realisiert, was das für seine Zukunft heißt, auch „auf dem Arbeitsmarkt“. Da, sagt er, „habe ich angefangen zu kämpfen, hab‘ im Unterricht sehr gut mitgemacht.“

Wo ist ein Platz auf dem Weg zum Abitur?

Er will Abitur machen, doch dafür braucht er eine Zulassung zur Oberstufe. Vithursan wechselt von der Real- auf eine Hauptschule, wiederholt Klasse 9, beweist bei einem IQ-Test, wie er sich entwickelt hat – und macht am Ende den Realschulabschluss. Doch wohin jetzt?

Die Schulen sind voll, vor allem an den Gesamtschulen ist an einen Platz nicht zu denken. Eine Berufsberaterin weist Vithursan auf das Leibniz-Gymnasium hin. Und obwohl es ihm dort gefällt – dort wird die Anstrengung erst richtig groß werden.

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Drei bis fünf Stunden büffelt der Neue jeden Nachmittag. So viel hat Stoff hat er aufzuholen. „Ich hat sich angefühlt wie an einer Uni und dass ich vor einem Professor sitze.“ Und auch Fabian Brockmann zweifelt: Ob dieser junge Mann das schafft? „Ich dachte mir, das kann nicht klappen.“

Fabian Brockmann ist Sozialarbeiter am Leibniz-Gymnasium in Dortmund. Und selbst er muss gestehen, er habe mehrfach bezweifelt, dass Vithursan es zum Abitur schafft.

Fabian Brockmann ist Sozialarbeiter am Leibniz-Gymnasium in Dortmund. Und selbst er muss gestehen, er habe mehrfach bezweifelt, dass Vithursan es zum Abitur schafft. © Althoff

„Nathan der Weise analysieren – wie soll das funktionieren?“

Brockmann ist Sozialarbeiter am Leibniz-Gymnasium, hat früher an einer Hauptschule gearbeitet und kennt den Unterschied, zum Beispiel im Fach Deutsch. Am Gymnasium analysieren die Kinder schon ab Klasse 5 Texte. Wichtiges Handwerkszeug dafür komme aber an der Hauptschule vor Klasse 10 gar nicht vor. „Und dann musste er hier wie die anderen ‚Nathan der Weise‘ analysieren. Wie soll das funktionieren?“

„Das ist ein wichtiges Thema“, unterstreicht Vithursan. Das Bildungssystem sei zu starr. Man müsse doch viel öfter abwarten können: Wie entwickelt sich ein junger Mensch? Und Sozialarbeiter Brockmann sagt: Diese gleiche Bewertungsgrundlage für alle Schüler, immer und immer – „das kann es eigentlich nicht sein.“

„Bin Monat für Monat eines Besseren belehrt worden“

Er denkt an Schüler, die neu nach Deutschland kommen, die Vorbereitungsklassen besuchen. Manche seien so gut, dass sie schon nach einem halben Jahr in die Regelklassen wechseln. „Aber nach ein paar Monaten besteht keine Chance mehr, sie im gymnasialen System anders zu bewerten. Diese Schüler stehen dann überall 1 bis 2 und in Deutsch kriegen sie eine 5.“ Anders übrigens als Vithursan.

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„Ich bin Monat für Monat, Schulhalbjahr für Schulhalbjahr eines Besseren belehrt worden.“ Nach anderthalb Jahren hatte Vithursan eine 3 in Deutsch. Brockmann staunt, „wie viel man auch mit Ehrgeiz, Akribie und Fleiß schaffen kann. Viele hatten vielleicht ein höheres Fachwissen, haben das dann aber nicht auf den Platz gebracht. Das hat er eben immer geschafft.“

Vithursans Leistungskurse: Mathe und Physik. Seine anderen beiden Abi-Fächer 2022: Deutsch und Erdkunde. Sein Schnitt: 3,3. Er wolle anderen Mut machen, die in einer ähnlichen Situation seien wie er früher, sagt der 20-Jährige. Und ein bisschen will er auch den Lehrern von früher sagen: Schaut her, ich habe richtig gelegen und ihr nicht.

Was hätte anders laufen können?

Welche Weichen hätte man anders stellen können? Darüber haben sich der Abiturient und der Sozialarbeiter gemeinsam Gedanken gemacht. Brockmann findet: Wenn ein Eignungstest nur sprachliche Probleme nachweist, aber keine anderen – warum dann nicht ein Jahr warten mit der Einschulung und in dieser Zeit die Defizite aufholen?

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„Aber dass es sofort in einen Förder-Bereich reingeht, für alle Gebiete, das finde ich krass.“ Wobei Brockmann auch die Lehrer in Schutz nehmen will: Die steckten doch auch fest im System. Sie müssten sich auf die Test-Ergebnisse von außen verlassen und danach handeln in diesem starren System Schule.

Naturwissenschaften, sagt Vithursan – etwas aus diesem Bereich werde er vielleicht studieren. Geowissenschaften klinge gut, aber er habe sich noch nicht festgelegt. „Und erst einmal überlege ich, ob ich ein Jahr Pause mache und etwas reise.“

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