Es ist wichtig, dass wir uns an die Vergangenheit des Ruhrgebiets erinnern. Aber es ist falsch, wenn sich die Erinnerung in der Pflege von Industriedenkmälern erschöpft, findet unser Autor.

von Dietmar Seher

Dortmund

, 24.09.2018, 11:29 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es war im Frühjahr 2000 und nach beruflichen Wanderungen durch halb Europa. Ich fuhr im Auto erstmals runter von Höchsten in die Stadt. Mein Zwölfjähriger guckte vom Beifahrerplatz aus neugierig in die vor ihm liegende Ebene. Er hatte Bonn, Brüssel und Dresden kennengelernt.

Doch nie hatte er solche komischen, unheimlichen, riesigen Stahlgerüste gesehen, wie sie da am Horizont auftauchten. „Papa, sind das Hochhäuser?“. Den gebürtigen Ruhri am Steuer traf der Schlag. „Hochhäuser? Das sind Hochöfen!“

Erinnerungen verklären auch

Die Begegnung mit dem industriellen Erbe seiner neuen Heimat, das heute mit historischen Orten wie Zollern, Industriedenkmälern wie Hansa und Gneisenau, mit Phoenix-West, der Thomasbirne am Phoenix-See und der halben Seilscheibe in Scharnhorst bewahrt wird, mag dazu beigetragen haben: Sohn begann sich, in Dortmund wohl zu fühlen. Aber Erinnerungen verklären auch. Im Jahr der letzten Grubenfahrt im Revier darf manches kritischer hinterfragt werden.

Gehen wir mit unserer Wirtschaftsgeschichte richtig um? Klammern wir falsche Weichenstellungen aus? Feiern wir mit den unzähligen industriellen Überbleibseln, die Kulturmanager in Dortmund und im Ruhrgebiet pflegen und von denen sie immer mehr wollen, nicht genau das, was den leider immer noch miesen Ruf der Region bundes- und weltweit ausmacht? Den – falschen - Eindruck einer Landschaft mit Ruß und Staub eben, mit schlechter Luft und einer Technologie von vorgestern und mit dem Signal, dass man hier besser nicht leben wollte?

Die Vergangenheit dieser Region war gefährlich

Das fragt kein eingewanderter Nörgler. Ich bin die ersten 15 Jahre meines Lebens im unmittelbaren Schatten dieser industriellen Ungetüme aufgewachsen. Vater und Großväter haben für Kohle und Stahl gearbeitet. Zugegeben: Nicht für die Betriebe von Hoesch, sondern für die von Thyssen am anderen Revier-Ende. Vom Flachdach unseres Wohnblocks in Duisburg-Marxloh aus guckte ich die halbe Jugend direkt auf die dunklen und qualmenden Konturen der Eisenschmieden. Der Himmel darüber war, in meiner Erinnerung, meist grau, gelb und manchmal rostrot.

Unser Autor Dietmar Seher (64) hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Heute ist er für das Nachrichtenportal t-online.de tätig. Dietmar Seher wohnt in Dortmund.

Unser Autor Dietmar Seher (64) hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Heute ist er für das Nachrichtenportal t-online.de tätig. Dietmar Seher wohnt in Dortmund. © Dietmar Seher

Wahr ist: Die Vergangenheit dieser Region, die wir durch die Industriedenkmäler glorifizieren, wurde nicht wenigen gefährlich. Für die guten Löhne, die hier für Erste Hitze- und Untertage-Jobs gezahlt wurden, war ein hoher Preis zu entrichten.

Die Krankheiten des Reviers

Der „Spiegel“ schrieb in seiner Ausgabe 33 des Jahres 1961: „Westdeutschlands Kohlekellerkinder“ müssten „jeden Tag ein kleines Pompeii durch die Exkremente der Industrie erdulden“. Dunst türme sich „über Feuerschlünden und Wohnhäusern“ und reduziere die Kraft der Sonne um ein Drittel.

Die Wissenschaft benannte Ursachen und Folgen weniger lyrisch. 8,6 Kilo Staub entstanden mit jeder Tonne Roheisen. Vier Millionen Tonnen Schwefeldioxid gerieten jedes Jahr in die Luft über Dortmund, Bochum und Duisburg. Leukämie, Krebs, Rachitis waren dezidierte Revier-Krankheiten – von den kaputten Bronchien und Lungen der Kumpel nicht zu reden.

Wäsche raushängen? Ging gar nicht

Viele, die hier geboren wurden, waren leichtgewichtiger und kleiner als die Kinder vom Niederrhein, als die des Münster- und Sauerlandes, so dass Essener Kinderärzte damals Strafanzeigen gegen die Konzerne erstatteten. Die Wäsche raushängen? Ging gar nicht.

Zum Glück sind Industrie und die Umweltschützer unter den Politikern irgendwann Willy Brandt gefolgt, der am 28. April 1961 in der Stadthalle von Bad Godesberg provozierend für diese Zeit gefordert hatte: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“. Aber der Umbau und der Abschied zumindest von der Kohle hätte - nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes und der gewaltigen, den Staatshaushalt überfordernden Subventionen - viel rascher vorangehen müssen.

Die Verantwortlichen für die Versäumnisse

Ein früheres Aus für den Bergbau und die ebenso frühere Ansiedlung modernerer Branchen und damit von mehr Konkurrenz in der einseitig geformten Industrielandschaft hätte einen wesentlich stabileren Strukturwandel garantiert.

Nicht die, die auf 1000 Meter Teufe einen grandiosen Job gemacht haben, waren die Verantwortlichen für solche Versäumnisse. Die weniger gern gelesenen Seiten der regionalen Wirtschaftsgeschichte besagen: Die Herren in den Vorstandsetagen des „schwarzen Goldes“ haben sich als zeitweise sehr eigennützige Blockierer betätigt.

Sie bissen alle Konkurrenten weg

Sie blockierten schon in den 1920er-Jahren den Bau eines zukunftsträchtigen, teils unterirdischen S-Bahn-Systems im Ruhrgebiet zugunsten eines aufgemotzten, mit Kohle gefeuerten Dampflok-Betriebs. Sie torpedierten Anfang der 1960er die Bemühungen des Ministerpräsidenten Franz Meyers, nahe Dortmund ein Ford-Autowerk anzusiedeln, mit dem hektischen Aufkauf von geeignetem Gelände.

Erst beim zweiten Anlauf des Politikers, mit dem er Opel nach Bochum lockte, gaben sie nach. Und sie bissen zu einer Zeit, als der Niedergang schon absehbar war, alle Konkurrenten weg, die ihnen auf einem Arbeitsmarkt mit Vollbeschäftigung die Leute wegzunehmen drohten.

Die falsche Strategie

Ohne Zweifel: Wir brauchen eine Erinnerungskultur. An die goldenen Jahre von Kohle und Stahl, die den Wiederaufbau der ganzen Republik nach dem Krieg möglich machten. An die Belastungen, die das den Revier-Bewohnern brachte. An die falschen Weichenstellungen, die zum Ende der wirtschaftlichen Blütezeit einen guten Übergang in die Welt der Zukunft zumindest verzögert haben.

Dies alleine den rostigen Resten überlebter Produktionsstätten möglichst in jedem Stadtteil zu überlassen und im Zweifel so auch noch aufs Ruhrgebiet neugierige Besucher (...oder Investoren?) abzuschrecken, ist eine falsche Strategie.

In der Kolumne „Klare Kante“ fühlen Redakteure und Gastautoren regelmäßig einem Dortmunder Thema auf den Zahn, das ihnen am Herzen liegt. Haben Sie zur Frage, ob Dortmund zum Ruhrgebiet gehört, auch etwas zu sagen? Dann schreiben Sie an lokalredaktion.dortmund@mdhl.de
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