Nervös blickt Renate Schäfer immer wieder aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die Straße. Die 86-Jährige hält Ausschau nach dem Mann, der nicht nur ihr seit Wochen große Angst bereitet. Ist er gerade wieder mit einer Glasflasche unterwegs, um die nächste Heckscheibe eines Autos einzuschlagen?
Es ist voll an diesem Mittwochnachmittag (5.4.) in der Wohnung von Renate Schäfer und ihrem Ehemann Dieter Hirland an der Straße Kesselborn in Dortmund-Marten. Mehrere Nachbarn haben sich hier versammelt, die in diesem Moment eine große Sorge eint: Wann hört der Mann auf, Autos zu demolieren und mit Steinen zu werfen? Wann kehren wieder Ruhe und Frieden in ihrer Straße ein?
Vier Geschädigte und ein Zeuge wissen nicht mehr weiter: Warum kann eine Person seit sechs Wochen täglich mit Glasflaschen Unheil anrichten und genauso lange für Angst und Schrecken sorgen, ohne dass sie gestoppt wird? Warum greift die Polizei nicht ein, obwohl das Straftaten-Konto jeden Tag länger wird?
„Heute sind es Autos, morgen sind es Menschen“, bringt Dennis Sichmann die Befürchtung aller auf den Punkt. Er sorge sich besonders um seine Frau und sein Kind. Renate Schäfer nickt: „Ich habe Angst, auf die Straße zu gehen, man weiß doch nicht, was er als Nächstes tut.“ Sie verlasse nur noch in Begleitung ihres Mannes die Wohnung. „Vorher bewaffnen wir uns mit Gehstöcken.“

Ein untragbarer Zustand, nicht nur für das Ehepaar. Alle, die gerade in ihrem Wohnzimmer stehen, fordern schnelle Maßnahmen, bevor die Situation weiter eskaliert. Tatsache ist: Eine neue Eskalationsstufe ist längst erreicht. Denn am Dienstag (4.4.) hat der Tatverdächtige die Seitenscheibe eines Linienbusses an der Haltestelle Kesselborn mit einer Glasflasche eingeschlagen.
Verletzt wurde niemand, Busfahrer und Fahrgäste mussten das Fahrzeug verlassen. Erst nach einer knappen Stunde konnte mit einem Ersatzbus die Fahrt fortgesetzt werden. „Danach hat er mit Steinen auf eine Mutter mit Kind gezielt“, berichtet Günter Szarnetzki. Er sei Zeuge gewesen.
30 beschädigte Autos
Der 66-Jährige war es auch, der die kaputte Heckschutzscheibe am Polo von Renate Schäfer und Dieter Hirland entdeckt hatte. Das war am 3. April. „Wir haben nur kurz unsere Einkäufe nach oben gebracht, danach wollte ich den Wagen in die Garage bringen“, so Hirland (68). Keine fünf Minuten habe das Auto auf dem Gehweg gestanden. Lange genug, um Zielscheibe blinder Zerstörungswut zu werden.
Rund 30 beschädigte Autos sollen mittlerweile auf das Konto des jungen Mannes gehen. Die beiden VW Polo von Jan Halt (29) und Dennis Sichmann (31) gehören dazu. Sie befinden sich aktuell in der Reparatur, wie auch der Wagen von Dieter Hirland und Renate Schäfer.

Sie alle hätten Anzeige bei der Polizei erstattet und das Gespräch mit den Mitarbeitern von „Bethel.regional“ gesucht. Denn der Tatverdächtige lebt im „Haus Kesselborn“, einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe. Geholfen habe das alles nicht, sagen die fünf Nachbarn resigniert. Dafür fehle ihnen jedes Verständnis. Der Mann sei eine große Gefahr für die Gesellschaft: „Warum darf er weiter frei herumlaufen und wird nicht einkassiert?“
Antworten darauf haben Verena Schmidt, Geschäftsführerin Stiftung Bethel/ Bethel.regional, und ihre Regionalleiterin Aleksandra Sommerrey. Während eines einstündigen Videointerviews am Donnerstag (6.4.) zeigen sich die beiden Frauen zutiefst erschüttert über die Situation. Gleichzeitig müssen sie einräumen: „Uns sind die Hände gebunden.“
Keine Befugnisse
Denn: Für freiheitsentziehende Maßnahmen fehlten ihnen die Befugnisse. „Wir würden uns sogar strafbar machen, wenn wir Herrn K. einschließen würden.“ Ihr Auftrag sei ein anderer: Erkrankte und geistig behinderte Menschen mit Hilfsbedarf zu unterstützen und ihnen ein Wohnangebot zu machen. „Wir wollen sie teilhaben lassen, sie sollen sich dort, wo sie wohnen, wohlfühlen, in einem friedlichen Miteinander.“
Um die Situation zu deeskalieren, seien nun andere Instanzen am Zug, die gesetzliche Betreuung, Ärzte und Richter. „Bis vor sechs Wochen war Herr K. unauffällig“, sagt Aleksandra Sommerrey. Er wohne seit 1,5 Jahren in Marten und habe Unterstützungsbedarf. „Er darf das Haus ohne Begleitung verlassen, so ist es gesetzlich festgeschrieben.“ Ein weiteres Problem: Herr K. begehe zwar Straftaten, sei aufgrund seiner Behinderung aber schuldunfähig.

Mit den Entscheidern sei man im engen Austausch, so Verena Schmidt. Bislang habe niemand Handlungsbedarf gesehen, Herrn K. neu zu begutachten und gegebenenfalls eine Diagnose zu stellen, die eine Unterbringung in einer forensischen Klinik erfordert. „Wir haben 500 Klienten in Dortmund, seit einer Woche beschäftige ich mich täglich zehn Stunden mit diesem Fall“, so die Regionalleiterin.
Man wolle so schnell wie möglich die Lage für die Anwohner, aber auch für die Mitarbeiter und Bewohner entschärfen. „Wir informieren in alle Richtungen und bitten um Unterstützung.“ Am Donnerstag (6.4.) hätten sie erreichen können, dass Herr K. im Zuge des Psychisch-Kranken-Gesetzes für eine „gewisse Zeit geschlossen untergebracht wurde und neu begutachtet wird“.

Damit dürften Renate Schäfer, Dieter Hirland und ihre Nachbarn zumindest ruhige Ostertage haben. „Gott sei Dank“, sagte der 68-Jährige im Telefonat mit dieser Redaktion.
Die Anwohner sollen nach Ostern zu einem Infoabend eingeladen werden, vielleicht könne man dann auch konkrete Aussagen zur Schadensregulierung machen, so Verena Schmidt. Zudem plant „bethel.reginonal“ eine „Fall-Konferenz“ mit allen Instanzen.
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