Der Schubert-Chor hat einen neuen musikalischen Leiter. Mit seiner Energie und Expertise will sich das Ensemble neu erfinden – und zu einemlange verlorenen Klang zurückfinden.
Manche Geschichten, die sich im alltäglichen Leben einer Stadt abspielen, könnten Roman- oder Filmanfänge sein. Da kreuzen sich die Wege sehr verschiedenartiger Protagonisten auf derart verheißungsvolle Weise, als habe es sich jemand mit meta-erzählerischer Absicht so ausgedacht. Vielleicht kommt es einem aber auch nur so vor. Das sich in diesen Tagen und Wochen neu entspinnende Kapitel in der Geschichte des Dortmunder Schubert-Chores glaubt man doch irgendwoher schon zu kennen: aus Filmen wie „Sister Act“, „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ oder „Wie im Himmel“. Dort kommen Gemeinschaften unter einer musikalischen Leitung zu Chören zusammen. Und Chöre kommen unter einem neuen Dirigenten wieder zu Gemeinschaften. Alles wird renoviert, erstmalig, unkonventionell, und plötzlich singen die Frauen, Männer und Kinder als gäbe es kein Morgen mehr.
Dass der Schubert-Chor in einer Krise steckt, war für Außenstehende nur zu erahnen: Die letzten Frühjahrs- und Weihnachtskonzerte wurden aus verschiedenen Gründen jeweils kurzfristig abgesagt und nicht nachgeholt. Seit etwa zwei Jahren war das traditionsreiche Ensemble von der laienmusikalischen Bildfläche der Stadt verschwunden. Dabei hatten noch zum 100-jährigen Bestehen des Chores fast 70 Sänger eine pompöse Gala mit internationalen Sängerstars und großem Orchester veranstaltet, in einem ausverkauften Opernhaus – „glanzvoll“ hieß es aus der Presse, der Chor sei „brillant aufgelegt“ gewesen und „schien musikalisch über sich hinausgewachsen“.
Im Klammergriff der Vergangenheit
18 Jahre später ist davon fast nichts mehr übrig. Immer mehr Sänger verließen den Chor in den vergangenen Jahren, die meisten von ihnen waren einfach zu alt geworden. Andere suchten sich dann neue Ensembles, größere, jüngere, genug Alternativen gab es wohl. Die, die blieben, taten es aus Pflichtbewusstsein. Ein Chor auf Standby, im Klammergriff seiner glorreichen Vergangenheit. „Wir haben irgendwann nur noch im eigenen Saft geschmort“, sagt Barbara Dorn-Erdogdu, erste Vorsitzende des Chores. Zwar ist sie noch nicht lange dabei – erst seit 2014, nachdem sie nach Dortmund gezogen war. Doch setzte sie sich mit aller Energie dafür ein, dass sich etwas ändert. „Denn den Chor hätten wir sonst beerdigen können“, sagt sie.
Dass es dafür eine neue Leitung braucht, eine ganz neue Richtung, das war allen irgendwie klar – auch dem bis dato leitenden Dirigenten Christian Parsiegel. „Ein Trainerwechsel tut manchmal allen gut, hat er gesagt“, so Dorn-Erdogdu. Sie trennten sich im gegenseitigen Einverständnis. Parsiegel übergab im Mai den Taktstock an seinen Nachfolger, der zu diesem Zeitpunkt schon gefunden war und bereits seit Februar mit dem Ensemble probte.
Ruhe und Professionalität
Andreas Leymann ist der zweite Protagonist dieser Geschichte mit Filmpotenzial: Mit seinen gerade 30 Jahren ist er der jüngste Chorleiter, den der Schubert-Chor je hatte, und gleichzeitig das derzeit mit Abstand jüngste Mitglied.
Es ist Mittwoch, im Gymnasium Petrinum in Recklinghausen hat gerade die Pausenglocke geläutet. Leymann sitzt am Schreibtisch in seinem Büro – „Stundenplan- und Vertretungsplanung“ steht draußen – und lehnt sich zurück, die Finger locker auf die Tischplatte gelegt. Wie er auftritt und spricht, mit fester Stimme und souveräner Gestik, so in Hemd und Krawatte, könnte er auch älter sein und einfach nur das Gesicht haben von jemandem, der gerade nicht mehr in den 20ern ist.
Doch man merkt trotz der Ruhe und Professionalität, die er ausstrahlt, dass in ihm eine Energie rumort, die irgendwohin muss. Etwas treibt ihn. „Chorleiten ist für mich wie Sport“, sagt Leymann. „Wie andere Leute nach einem anstrengenden Tag in der Schule ins Fitnessstudio gehen, um sich auszupowern, gehe ich zur Chorprobe.“ Die Präsenz und stimmliche Qualität eines Chores herauszuarbeiten sei ihm besonders wichtig, „und um da von den Sängern 100 Prozent zu bekommen, sie zu begeistern für die Musik, muss ich 200 Prozent geben. Das ist, wie wenn man auf einer Bühne steht.“
Suche nach neuer Herausforderung
Wie er zum Schubert-Chor kam? „Ich war auf der Suche nach einer neuen Herausforderung“, sagt der gebürtige Castrop-Rauxeler. Dass ein Dortmunder Traditionschor nach über 100-jährigem Bestehen einen neuen Leiter suchte, der alles anders macht, kam wie bestellt. „Der Chor befindet sich derzeit völlig im Umbruch, was eine gute Voraussetzung für meine Arbeit ist“, sagt er. „Manchmal passiert es ja, dass sich Tradition für einen Chorleiter auch zu einem großen Druck entwickelt, dem er sich dann anpasst.“ Hier ist es anders: „Ich kann dem Ganzen nun einen eigenen Stempel aufdrücken“, sagt Leymann. „Es ist irgendwie mein Ding. Da steckt natürlich viel Arbeit und viel Zeit drin, das läuft nicht von selbst. Aber genau danach habe ich gesucht.“
Nun ist es aber nicht so, dass Andreas Leymann nicht bereits verschiedene Chöre leiten würde. An seiner Schule in Castrop leitet er den Schulchor, hat an der Chorakademie Dortmund mit B- und C-Kinderchören gearbeitet und auch einen eigenen Chor – „N‘Joy“ in der St.-Josef-Gemeinde in Kirchlinde – gegründet. Außerdem singt er selbst im Landesjugendchor NRW.
Chorleitung mit Hauptfach Gesang
Studiert hat Leymann an der Technischen Universität (TU) Dortmund Physik und Schulmusik mit Hauptfach Klavier und hatte neben seinem Abitur bereits die kirchenmusikalische C-Ausbildung absolviert, in der er Orgelspiel, Stimmbildung und Chorleitung gelernt hatte. Nach dem Referendariat an einer Castroper Schule setzte er dann den Master Chorleitung an der Universität Essen noch obendrauf, Hauptfach Gesang, Schwerpunkt Kinder- und Jugendchorleitung.
Im Grunde, sagt er, unterscheide sich die Arbeit nicht großartig – mit Kindern arbeite er eben viel spielerisch, bei Erwachsenen eher mit intellektuellem Input. „Das Problem bei Erwachsenen ist aber, dass sie viel denken“, sagt Leymann. „Eigentlich zu viel.“ Gerade in Bezug auf einen so natürlichen Vorgang wie das Singen. „Eigentlich erzähle ich jeden Montagabend dasselbe“, sagt er und lacht ein bisschen. „Aber es bleibt von Woche zu Woche immer etwas mehr hängen.“
Derzeit verbringt er manchmal bis zu einer halben Stunde in den Proben allein mit Stimmbildung. Denn zuletzt, so erzählt es Barbara Dorn-Erdogdu, war der Chor wohl nicht mehr in der Lage A Cappella, also unbegleitet, zu singen – „das klang ganz schaurig“. Der Grund: „Die Sänger waren es gewohnt, bei den Proben immer mit dem Klavier begleitet zu werden“, sagt Leymann. „Das mache ich nun ganz bewusst nicht.“ Dafür und grundsätzlich für seine Arbeitsweise seien die Sänger erstaunlich offen, „die machen alles mit, das ist ein Geschenk“. Auch wenn es für manche von ihnen anstrengend sei: „Einige unserer Männer geraten richtig ins Schnaufen“, sagt Dorn-Erdogdu. Klar: der Körper - Zwerchfell, Kehlkopf, Stütze - muss von Grund auf neu trainiert werden.
Und dann klingt es
Singen – das ist vielen nicht bewusst – ist Muskelarbeit. „Irgendwann aber ist es ganz leicht“, sagt Leymann. „Dann muss man nicht mehr überlegen, wie stelle ich mich hin, wie atme ich, wie setze ich den Ton an – nach einiger Zeit passiert das alles automatisch.“ Und dann klingt es. „Ich will dahin kommen, dass wir nicht nur Töne singen“, sagt Leymann, „sondern dass wir Musik machen.“ Deshalb lässt er in den Proben vieles noch auf Vokalisen singen, ohne Text.
Die Schwierigkeit des Repertoires sei ebenfalls erst einmal nebensächlich. Doch der Klang habe sich bereits jetzt enorm verbessert, sagt auch Barbara Dorn-Erdogdu: „Er ist durchsichtiger geworden, und wir können wieder A Cappella singen.“ Sie sieht richtig glücklich aus, als sie das sagt. Als sich vor einigen Wochen, erzählt sie, andere Mitsänger in der Probe etwas verunsichert zeigten, habe sie ihnen zugerufen: „Traut euch, ihr könnt das!“ Und, so berichtet sie weiter, „sie trauten sich, und es gelang.“
Im Dortmunder Süden groß geworden, mittlerweile Innenstadtbewohnerin. Hat an der TU Dortmund Musik mit Hauptfach Orgel, Germanistik und Bildungswissenschaften studiert, studiert jetzt zusätzlich Musikjournalismus. Seit 2010 bei den Ruhr Nachrichten. Schreibt am liebsten über Kultur und erzählt Geschichten von Menschen.