Katrin Oehlschlegel ist eine von zwei Obdachlosen-Krankenschwestern in Dortmund. Sie behandelt mehr als 400 Betroffene – und es werden immer mehr. © Judith Wiesrecker
Obdachlosigkeit
Dortmunder Obdachlosen-Krankenschwester erzählt: „Angst darf man in dem Beruf nicht haben“
Katrin Oehlschlegel ist eine von zwei Obdachlosen-Krankenschwestern in Dortmund. Sie behandelt mehr als 400 Betroffene – und es werden immer mehr, die ihre Hilfe brauchen.
Wer zu Katrin Oehlschlegel kommt, fühlt sich in einem normalen Wartezimmer nicht erwünscht. „Nicht wartezimmerfähig“, nennt die Krankenschwester das. Ihr kleines, L-förmiges Büro in der zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Menschen (ZBS) an der Rolandstraße 10 in Dortmund ist zugestellt: In der einen Ecke der Schreibtisch, darauf ein Bonbon-Glas mit Mullbinden, auf der anderen Seite stehen Regale mit Medikamenten. „Leere Pillendosen“ und „diverse Schmerzmittel“ ist auf die Boxen geschrieben.
Eitrige Wunde: „Boah, jetzt wird mir aber schwindelig“
Auf einer Krankenliege sitzt ein Mann, Torsten Kotlarski, ein Bein ausgestreckt, das andere baumelt herunter. Es ist 9.30 Uhr an einem Montagmorgen im Oktober, im Zimmer steht die Hitze, die Fenster sind beschlagen. Trotzdem trägt Kotlarski zwei Pullover übereinander. Vorsichtig krempelt er seine Hose bis zum Knie hoch.
Eine faustgroße, offene Wunde kommt zum Vorschein, gelb und eitrig. Die fleischfarbenen, schon verheilten Ränder ziehen sich kreisförmig um die Verletzung, verdecken an einigen Stellen ein Tattoo. Oehlschlegel beugt sich über das Bein, ein paar dunkelblonde Strähnen fallen aus ihrem lockeren Zopf. Die 51-Jährige sprüht Desinfektionszeug auf die Wunde, drückt an ihr herum, schmiert sie mit Salbe ein. „Boah, jetzt wird mir aber schwindelig“, sagt Kotlarski und verzieht das Gesicht.
Katrin Oehlschlegel behandelt ihre Patienten in der zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Menschen. Und außerhalb der Sprechzeiten in Hinterzimmern von Kneipen, Suppenküchen und Übernachtungsstellen. © Judith Wiesrecker
„Die Arterien sind zu, eigentlich müssten Sie ins Krankenhaus“, erwidert Oehlschlegel ruhig und schiebt ihre Brille die Nase hoch. Im schlimmsten Fall würde sich die Infektion ausbreiten und eine Sepsis auslösen, eine Entzündungsreaktion im ganzen Körper. Doch Oehlschlegel weiß, dass ihr Patient nicht ins Krankenhaus gehen wird.
Kotlarski ist obdachlos, will sich nicht regulär behandeln lassen – so wie viele Menschen, die auf der Straße leben. Also gibt es nur ein wasserfestes Pflaster und einen Verband. Drei, vier Mal wickelt Oehlschlegel ihn um das Bein.
Behandlungen im Hinterzimmer von Kneipen und Suppenküchen
Katrin Oehlschlegel ist eine von zwei Obdachlosenkrankenschwestern in Dortmund, teilt sich die Stelle mit einer Kollegin. Seit 2015 arbeitet sie in der ZBS der Diakonie in der Nordstadt, zieht Fäden, misst den Blutdruck, behandelt Wunden. „Alles querbeet, wie beim Hausarzt“, sagt sie.
Vor einem Jahr hat sie eine Weiterbildung zur Wundexpertin gemacht. Außerhalb der Sprechstunden behandelt die Krankenschwester ihre Patientinnen und Patienten in Hinterzimmern von Kneipen, Suppenküchen und Übernachtungsstellen. Ihren Koffer mit Medikamenten und Verbänden hat sie dann immer dabei.
Katrin Oehlschlegel hat Medikamente und Verbände immer dabei. © Judith Wiesrecker
Bevor sie Obdachlosenkrankenschwester wurde, hat Oehlschlegel 18 Jahre im St.-Johannes-Hospital in Dortmund gearbeitet, in der Onkologie. „Dort waren die Patienten ein paar Wochen auf Station und man hat eine ziemlich starke Bindung aufgebaut. Genau wie hier“, sagt sie. Einige Obdachlose kommen schon seit Jahren zu ihr, andere einmal und dann nie wieder. „Einer der schönen Momente ist, wenn Menschen, die sich eigentlich nicht behandeln lassen wollen, doch wiederkommen“, sagt die Krankenschwester. Dann erst könne sie ihnen wirklich helfen.
Die Krankenschwester ist „wie eine Ersatzmama“
Torsten Kotlarski lässt sich seit drei Monaten von ihr behandeln. Er muss wegen seiner Wunde am Bein fast jeden Tag kommen. „Wie eine Ersatzmama“, sagt der 46-jährige. Oehlschlegel erkundigt sich, hört sich die Geschichten ihrer Patientinnen und Patienten an. „Ich wurde vor einem halben Jahr aus der Haft entlassen, nach insgesamt sechs Jahren. Vom Heroin bin ich weggekommen, Kokain-Rückfälle habe ich nur noch zwei bis drei Mal die Woche“, sagt Kotlarski.
Durch den starken Drogenkonsum wird das Bein nicht mehr richtig durchblutet, die Wunde kann nicht verheilen. Der Zustand verschlechtert sich. „So etwas ist schon frustrierend“, sagt Oehlschlegel.
Als das Bein versorgt ist, drückt sie Kotlarski eine blaue Tüte in die Hand, vollgestopft mit warmen Klamotten für den Winter. Sofort setzt er sich eine Mütze auf: „Die is‘ top.“ Er strahlt von einem Ohr zum anderen. Im Keller der Diakonie gibt es eine Kleiderkammer, einen Aufenthaltsraum, eine Schlafstelle mit ein paar Feldbetten und Sanitäranlagen.
Im Keller der Diakonie gibt es eine Kleiderkammer. Aus ihr erhalten die Obdachlosen Klamotten, gerade wenn es kalt ist. © Judith Wiesrecker
Manchmal muss Oehlschlegel die Obdachlosen dort waschen, wenn sie zu verwahrlost sind oder es allein nicht schaffen. Die vielfältigen Aufgaben machen den Beruf für sie erst interessant. Sie behandle Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheitsgeschichten, darunter häufig HIV oder Hepatitis C. Da die Menschen sich oft nicht mehr richtig pflegen und auch nicht auf die Warnsignale ihres Körpers achten, muss die Krankenschwester besonders aufmerksam sein.
Manche haben nur anzügliche Sprüche übrig
Freundlichkeit erfährt sie trotzdem nicht immer. Einige männliche Patienten hätten regelmäßig nur anzügliche Sprüche für sie übrig. „Wenn du auch obdachlos wärst, dann wärst du meine Freundin“, sei da noch harmlos. Mit manchen Patienten kann sie gar nicht alleine in einem Zimmer sein, muss sich dann Verstärkung aus den Nachbarbüros der ZBS holen.
Oehlschlegel weiß, dass in solchen Fällen nur selbstbewusstes Auftreten und eine klare Körpersprache helfen. „Angst darf man in diesem Beruf nicht haben“, sagt sie. Die Patientinnen und Patienten respektieren sie – ein Umstand, der in diesen Kreisen nicht unbedingt selbstverständlich sei. Gerade bei Männern: Für viele ist Oehlschlegel die einzige weibliche Bezugsperson.
„Jetzt setzen Sie sich erstmal hin“, sagt sie freundlich, aber bestimmt zu einem Patienten, der in dem kleinen Büro unruhig auf- und abläuft. Körperlich wäre Oehlschlegel den meisten Obdachlosen aber trotzdem unterlegen: Sie ist dünn, nicht besonders trainiert – dafür aber sehr groß.
Geld gibt die Krankenschwester Obdachlosen nie
Die Krankenschwester arbeitet jeden Tag mit Menschen, die gerade das Nötigste zum Leben haben. Und meistens nicht einmal das. Das berühre sie und zeige ihr, wie „wohlhabend“ sie selbst doch sei. Ob diese Gedanken sie nach Hause begleiteten? „Nein. Man muss sich klar machen, dass man nicht jedem helfen, dass man die Menschen nicht von der Straße holen kann“, sagt die Krankenschwester. Geld gebe sie Obdachlosen nie, auch nicht denen, die sie kennt.
Wirklich helfen könne sie nur, indem sie die Menschen mit Würde und Respekt behandle, sagt Oehschlegel. Am schwersten sei ihre Arbeit, wenn sie mit jungen Leuten zu tun hat. 15, 16 Jahre alt. „Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst Kinder habe“, sagt sie. „Es ist schwierig zu sehen, dass das Leben schon vorbei ist, bevor es richtig angefangen hat.“ Mit dieser Chancenlosigkeit werde sie ständig konfrontiert. „Ich muss die Menschen manchmal auch zum Sterben auf die Straße schicken“, sagt sie.
Den Beruf als Obdachlosenkrankenschwester aufgeben wolle sie trotzdem nicht. Schließlich sehe sie tagtäglich, wie sie Menschen in Not helfe. Trotzdem ist es für sie ein Job wie jeder andere, „nur eben abwechslungsreicher“, sagt sie trocken.
„Wir brauchen unbedingt mehr Unterstützung“
Katrin Oehlschlegel teilt sich mit ihrer Kollegin die einzige Stelle als Obdachlosenkrankenschwester. „Wir brauchen unbedingt Unterstützung“, sagt Oehlschlegel. 2014, als sie selbst noch nicht in der ZBS arbeitete, habe ihre Kollegin circa 1400 Mal behandelt. Im Jahr 2018 waren es bereits bis Oktober knapp 3000 Behandlungen.
Katrin Oehlschlegel teilt sich mit einer Kollegin die einzige Stelle als Obdachlosenkrankenschwester. „Wir brauchen unbedingt Unterstützung“, sagt Oehlschlegel. © Judith Wiesrecker
Überstunden macht die Krankenschwester trotzdem nicht, häufig seien die Obdachlosen zu ungeduldig, um länger zu warten. Sie kämen dann lieber am nächsten Tag wieder. „Es werden immer mehr auf der Straße, die Hilfe brauchen“, sagt die 51-jährige.
In Dortmund sind aktuell etwa 450 Menschen obdachlos, heißt es aus der Pressestelle der Stadt. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) sei die Zahl der Wohnungslosen seit 2016 bundesweit um 150 Prozent gestiegen, sagt Thomas Bohne von der ZBS Dortmund. Ende 2018 werden circa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wohnungslos gewesen sein.
Dass jemand versichert ist, ist die Ausnahme
„Der nächste“, ruft Katrin Oehlschlegel. Meistens braucht sie gar nichts zu sagen, so fliegend ist der Wechsel. Der nächste schlurft in das kleine Büro, lässt sich auf den Stuhl fallen, redet kaum. „Einmal Blutdruck messen?“, fragt Katrin Oehlschlegel. Ein Nicken. Der Mann, schwarzes Haar und Kippa, kramt seine Versicherungskarte aus der Tasche.
Dass überhaupt jemand versichert ist, ist die Ausnahme. Die Medikamente und Materialien, die in den Regalen liegen, sind fast alle durch Spenden finanziert. Oehlschlegel gibt dem Mann Bluthochdruckmittel für eine Woche mit. Nach zwei Minuten schlurft er wieder raus.
In der zentralen Beratungsstelle warten Menschen, die allesamt ähnliche Probleme haben. Im Wartezimmer können sie in Ruhe ihr mitgebrachtes Bier zu Ende trinken oder mit Freunden quatschen. „Wir müssen den Obdachlosen so viele Hürden wie möglich nehmen, damit sie sich behandeln lassen“, sagt die Krankenschwester.
Es ist 14 Uhr, vor der Tür ist mittlerweile keine Schlange mehr zu sehen. Nach sieben Patientinnen und Patienten ist Katrin Oehlschlegels Arbeitstag aber noch nicht vorbei. Jetzt geht es zur Frauenübernachtungsstelle am Ostentor, danach ins Café Berta in der Nordstadt. Zwischen 17 und 18 Uhr kann sie nach Hause gehen. Feierabend: Wenigstens was das angeht, hat sie einen ganz normalen Job.
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