Mit einem Zeckenbiss begann der Albtraum „Das ist wie bei Krebs, Sie dürfen nicht aufgeben“

Mit einem Zeckenbiss begann der Albtraum: „Ich darf nicht aufgeben“
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Seit vier Jahren lebt Marie-Christin Jeske (33) ein Leben, das sie sich nie hat vorstellen können. Ein Leben, das sich vorwiegend in einem abgedunkelten Zimmer abspielt, vielleicht 15 Quadratmeter groß.

Die junge Frau aus Dortmund-Wellinghofen verbringt ihre Zeit inzwischen fast nur noch auf 1,60 mal 2 Meter. So groß ist ihr Bett, aus dem sie nur ganz selten herauskommt. Der 33-Jährigen fehlt dafür die Kraft.

Diese Geschichte beginnt im Jahr 2019. Marie-Christin Jeske arbeitet als zahnmedizinische Fachangestellte, tritt nebenher als Sängerin auf und kümmert sich als Alleinerziehende um ihre damals dreijährige Tochter.

Es ist Juli. Die junge Frau ist auf einer Familienfeier. „Als ich wieder zu Hause war, habe ich gemerkt, dass es bei mir in der Kniekehle juckt.“ Marie-Christin Jeske schaut nach, finden eine Zecke, entfernt sie – und nimmt an, alles wäre gut.

Borreliose nach Zeckenbiss

Doch gut ist seitdem so gut wie nichts mehr: Zwei Wochen später findet Marie-Christin Jeske eine „kreisrunde Entzündung am Bein“. Sie geht zum Arzt, lässt ihr Blut untersuchen. Diagnose: Borreliose. Eine Infektion, übertragen durch den Zeckenbiss. Sie bekommt ein Antibiotikum.

Aber damit ist es nicht vorbei: „Ich wurde von Tag zu Tag, von Woche zu Woche immer schwächer“, erinnert sich Marie-Christin Jeske heute an diese Zeit. Immer müde, immer schlapp, sowohl körperlich als auch geistig. Bekannte verstehen sie nicht, wenden sich ab: „Die spinnt doch, habe ich mir anhören müssen. Sie haben gesagt: Du hast doch ein Antibiotikum bekommen.“ Der Schluss: Damit muss es gut sein. Für Marie-Christin Jeske ist jedoch nichts gut. Was auch sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Das Schlimmste kommt erst noch.

Diagnose: Chronisches Fatigue-Syndrom

Sie landet in der Psychiatrie, bekommt Beruhigungsmittel, die sie abhängig machen – bis heute, erzählt die junge Frau. „Für so jemanden wie mich gibt es keinen Therapieplatz.“ Nach drei Wochen wird sie entlassen. Ihr Zustand hat sich nicht gebessert.

Ein halbes Jahr nach dem Zeckenbiss gibt sie ihre Tochter zu den Großeltern. „Ich habe es nicht mehr geschafft, mich und sie anzuziehen, geschweige denn ins Auto zu steigen.“ Damals ist ihre Tochter drei, heute ist sie sieben Jahre alt. Marie-Christin Jeske müht sich, die Fassung zu bewahren, wenn sie über die Trennung von ihrem Kind spricht. „Ich bin selbst bei den Großeltern aufgewachsen, liebevoll und behütet. Aber ich habe mir geschworen, dass ich mich immer selbst um mein Kind kümmern werde“, sagt sie. Doch es geht nicht.

Die 33-jährige Wellinghoferin versucht, alles an Informationen im Netz zu finden, was ihr weiterhelfen könnte, und stößt auf den Begriff „ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom“. Ich habe damals gedacht: „Marie, das musst du ausschließen für dich.“ Es kommt anders; es ist genau die Diagnose, die sie fürchtet: „Postinfektiöses ME/CFS“ steht in dem ärztlichen Bericht.

Myalgische Enzephalomyelitis ist eine chronische Erkrankung mit vielen möglichen Beschwerden. Dazu gehören unter anderem starke Erschöpfung, Schmerzen sowie Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Und häufig beginnt die Erkrankung nach einem Infekt. Was die Erkrankung genau auslöst, ist bislang aber ungeklärt.

Deshalb beschreibt der Name ME/CFS vor allem die Beschwerden: Der Fachbegriff „ME“ steht eher für Muskelschwäche und Schmerzen, „CFS“ für Erschöpfung. Marie-Christin Jeske beschreibt es für sich so: „Für Menschen mit dieser Erkrankung führt Schlaf nicht zu einer Erholung wie bei gesunden Menschen, sondern wir müssen ständig unser Energiemanagement wie ein kaputter Handy-Akku durchführen, um selbst einfache Aufgaben wie das Waschen in Erwägung zu ziehen.“

Zwei Selfies zeigen Marie-Christin Jeske aus Dortmund-Wellinghofen vor und nach ihrer Erkrankung. Sie leidet an ME/CFS.
Zwei Fotos, zwei Selfies, die Marie-Christin Jeske vor und nach ihrer Erkrankung zeigen. © Jeske

Pflegestufe 4 und elektrischer Rollstuhl

Seit vier Jahren nun ist die Wellinghoferin immer mehr in einem dunklen Zimmer gefangen und auf ständige Hilfe angewiesen. Sie hat Pflegestufe 4. Neben ihrem Bett stehen inzwischen ein Sauerstoffgerät, eine Bettpfanne, viel Medizin und ein Kühlschrank – alles in Reichweite.

Die an die Wand gelehnten Krücken reichen schon längst nicht mehr aus. Im Flur steht ein elektrischer Rollstuhl; die 33-Jährige hat einen Hausnotruf. Während wir reden, liegt Marie-Christin Jeske in ihrem abgedunkelten Zimmer auf ihrem Bett, mit Sonnenbrille und Ohrstöpsel. Die Reize sind sonst zu viel für sie. An den Wänden hängen Porträtfotos der Familie aus glücklichen Zeiten.

Die an Myalgischer Enzephalomyelitis erkrankte Marie-Christin Jeske aus Dortmund-Wellinghofen ist inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen.
Marie-Christin Jeske ist inzwischen auf diesen Rollstuhl angewiesen. © privat

Warum schildert die junge Frau das alles? „Ich möchte, dass meine Geschichte und die Geschichten vieler anderer Betroffener gehört werden. Es ist wichtig, dass genug Menschen und Ärzte auf unsere Situation aufmerksam werden, damit wir die Chance haben, noch in diesem Leben eine Mutter für unsere Kinder zu sein. Viele von uns fühlen sich vergessen und alleine in ihren dunklen Zimmern, aber ich habe die Hoffnung, dass es noch Menschen gibt, die uns helfen können.“

Es gebe einfach viel zu wenig Hilfsangebote für die Patientinnen und Patienten. Viel von ihrer wenigen Energie müsse sie darauf verwenden, an diese zu kommen, klagt die 33-Jährige.

Kapitulieren ist für Marie-Christin Jeske aber keine Option: „Ich war nicht dabei, als mein Kind Radfahren lernte, ich war nicht dabei, als sie das Seepferdchen machte, ich war nicht dabei, als sie eingeschult wurde.“ Sie möchte irgendwann wieder dabei sein können.

Und so setzt sie trotz aller Rückschläge alles daran, den größten Wunsch ihrer Tochter zu erfüllen: „Die Mama soll gesund werden.“ Seit der Erkrankung haben Mutter und Tochter ein Ritual: Jedes Jahr zum Jahreswechsel schreiben sie ihre Wünsche auf einen Zettel. Der steigt mit einem Ballon in den Himmel, „zum lieben Gott“. Und auch, wenn dieser Wunsch bisher nicht in Erfüllung ging: „Das ist wie bei Krebs, Sie dürfen einfach nicht aufgeben“, sagt Marie-Christin Jeske.

Demonstration 2023 in Berlin: Menschen liegen am Boden und wollen so auf die Erkrankung, die Myalgische Enzephalomyelitis, aufmerksam machen.
Demonstration 2023 in Berlin: Die Menschen wollen auf die Erkrankung, die Myalgische Enzephalomyelitis, aufmerksam machen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erfuhr die Krankheit zeitweise mehr Aufmerksamkeit, weil auch ein Teil der Corona-Patienten daran litt und leidet. © picture alliance/dpa

  • Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ist ein gemeinnütziger Verein, der sich dafür engagiert, dass Betroffene in Deutschland eine adäquate medizinische und soziale Versorgung bekommen. Man wolle die „dramatische Situation der Erkrankten und Angehörigen an die Öffentlichkeit bringen und den Ausbau der medizinischen Versorgung und Forschung voranbringen“, heißt es auf der Homepage des Vereins.
  • Der Verein beschreibt die Krankheit „ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom“ auf seiner Seite so: „ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und schätzungsweise über 60 Prozent arbeitsunfähig. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen betroffen, darunter 40.000 Kinder. Die Ursachen sind nur wenig erforscht.“
  • Die Forschung verlaufe schleppend, klagt der Verein. Und weiter: „Viele Betroffene leiden zudem unter ausgeprägten Schmerzen wie Muskel- und Gelenkschmerzen und Kopfschmerzen. Hinzu kommen Muskelzuckungen und -krämpfe, massive Schlafstörungen und neurokognitive Symptome wie Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen sowie die Überempfindlichkeit auf Sinnesreize. Schwerstbetroffene müssen deshalb oft in abgedunkelten Räumen liegen.“

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