Seit elf Jahren räumt er vermüllte Wohnungen aus, seit sechs Jahren ist er Tatortreiniger in Dortmund, Lünen und der Umgebung: Wir lassen „Balu“ erzählen - über das Leben, den Tod und den Ekel, über die Einsamkeit, die Süchte, die Gewalt und die Abgründe, die er erlebt. Und über die Dankbarkeit der Menschen, wenn seine Arbeit getan ist.
„Ich heiße Rüdiger Friedrich Maximilian Mertens, aber seit 25 oder 30 Jahren habe ich den Namen „Balu“. Und so stelle ich mich auch bei allen Leuten vor.
Ich bin 43 Jahre alt und mein Beruf ist, sagen wir mal: abgeleitet aus meiner Kindheit. Ich bin früh zuhause abgehauen, habe in Messie-Häusern gelebt. Es war halt alles nicht so einfach zuhause.
Jahrelang habe ich im PC-Laden gearbeitet, aber das war mir auf Dauer zu stupide. Irgendwann habe ich mich selbstständig gemacht und auf Extremfälle spezialisiert: Messies, Mietnomaden. Dann habe ich irgendwann meine ersten Leichen-Fundorte gehabt und meine Zertifizierung gemacht zum Tatortreiniger. So bin ich immer mehr in meinen Beruf reingewachsen.“
Mertens kommt aus Dortmund, wohnt und arbeitet heute in Lünen. Er habe eine Sucht-Vergangenheit, deutet er an, sei drei Mal obdachlos gewesen, habe von Hartz IV gelebt. Weiter ins Detail will er nicht gehen. Er will nicht über das Gestern reden, sondern über das Heute.
„Eine Bestimmung“
„Der Job ist für mich eine Bestimmung. Anderen Menschen zu helfen, ist mir sehr, sehr, sehr wichtig. Zum Beispiel helfe ich Angehörigen oder Vermietern, die Schäden so gering wie möglich zu halten. Bei einer Liegeleiche können ganz erhebliche Schäden an der Grundsubstanz der Wohnung oder des Hauses entstehen. Es gab sogar Häuser, die abgerissen werden mussten.
Es ist die Frage, ob jemand für diesen Job geschaffen ist. Ich hatte Praktikanten, die sich abends nach einer Tatortreinigung völlig die Kante gegeben haben, weil sie nicht damit klarkamen. Ich aber kann sehr gut abschalten, sehr gut differenzieren. Ich ziehe die positiven Aspekte aus meinem Job.
Wenn ich den Tatort verlasse und alles sauber ist, sagen die Leute: „Boah, man sieht ja gar nichts mehr, krass!“ In diesen Momenten baue ich eine riesige Baustelle ab in diesen Menschen. Sie stehen vor einer Riesenhürde, wenn ein Angehöriger tot oder vielleicht sogar verwest aufgefunden wurde. Die wissen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen. Oder wie sie das reinigen sollen.“
Mertens zeigt Fotos aus einer Messie-Wohnung in Dortmund, in der ein toter Mann gefunden wurde: Die Bierflaschen stapeln sich fast bis zu den Lichtschaltern, in allen Räumen. Wo genau das war, dürfen wir nicht schreiben. Nur so viel: nicht unbedingt da im Stadtgebiet, wo man es vermuten würde. Sondern in einem Mehrparteienhaus in einer eher besseren Gegend.

Bierflasche für Bierflasche
„Es war einfach ein komplett filigranes Aufräumen, denn nicht alle Bierflaschen waren leer. Der Mann hatte vor sechs oder sieben Jahren angefangen, leere Bierflaschen auf den Boden zu stellen. Und irgendwann hat diese Ordnung offenbar aufgehört und er hat nur noch alles draufgeschmissen.
Da kannst du nicht einfach mit einer Schaufel rein zum Ausräumen. Denn wenn du das alles auskippst, dann ruinierst du den Holzboden und der Schaden wird noch viel heftiger. Ein Großhändler hat mir leere Bierkisten zur Verfügung gestellt. So konnte ich dem Vermieter noch das Leergut als Sachwert anrechnen lassen, um die Kosten nicht gar so hochzutreiben.

Zweieinhalb Tonnen Windeln
Der Vermieter war übrigens geschockt, wie die Wohnung aussah: „Ich habe ihm das nicht angesehen. Hätte ich das gewusst, hätte ich viel früher einen Riegel davor geschoben.“ Aber so etwas passiert öfter. Aus anderen Wohnung habe ich zweieinhalb Tonnen benutzte Damen-Pampers herausgeholt. Zweieinhalb Tonnen!
Das war in einer gut betuchten Ecke in Dortmund. Im Umfeld hieß es, man habe das der Frau nie angesehen. In solchen Fällen haben sich Menschen irgendwann absolut aufgegeben. Wahrscheinlich haben sie oft genug im Leben um Hilfe gerufen, aber es halt keiner gehört. Heutzutage macht sich keiner mehr die Arbeit, hinter eine Fassade zu gucken: Wie geht’s diesen Menschen wirklich?
Der Schlüsselmoment
Ich verurteile niemanden für den Zustand seines Lebens, für sein Handeln und Tun, auch wenn er sich in diesen Wohnungen komplett zumüllt oder darin verstirbt. Keiner hat sich Alkoholismus im Aldi am Wühltisch gekauft, nur weil er im Angebot war.
Es gibt immer einen Schlüsselmoment im Leben, einen Schicksalsschlag, nach dem sich Leute völlig aufgeben. Ob es nun Scheidung, Trennung, Stalking, Mobbing, Jobverlust ist oder etwas ganz anderes.
Der Herr aus dieser Leergut-Bude war ein begnadeter Comic-Zeichner. Da habe ich Aktenordner gefunden - was der gemalt hat - Boah! Das ist schade: dass Menschen ihre Prioritäten verlieren, ihre Lebenswerke nicht weiter ausbauen. Und sich dem Alkohol, dem Suff hingeben.“
Ekel könne er sich nicht leisten, sagt Mertens. Wer bei McDonald‘s die Toiletten reinige, könne sich ja auch nicht davor drücken, nur weil der Würgereiz komme. Wie Leichengestank sei? Man müsse sich die Tröge mit geräucherten Tierteilen für Hunde vorstellen, die es zum Beispiel bei „Fressnapf“ gebe - nur dass der Gestank tausendfach stärker sei.

Für Empathie gibt‘s keine App
„Der Herr mit den vielen Bierflaschen lag nicht lange tot in seiner Wohnung. Aber es gibt auch die anderen Fälle - wo jemand länger da lag und es hat keine Sau interessiert, keinen Nachbarn. Keinen interessiert es, dass der Hund noch fünf Tage lang gebellt hat, dass da lauter Leichenfliegen an den Fenstern sind.
Da werden lieber Duftbäumchen an die Tür gehängt und Febreze-Spender hingestellt, anstatt dass man einmal die Polizei ruft. Wie kann es zum Beispiel sein, dass jemand in Coesfeld acht Jahre tot in seiner Wohnung liegt? Ich sage immer: Für Empathie gibt’s keine App. Und viele Menschen sollten wirklich mal über ihr Handy-Display hinaus gucken“
“Für Empathie gibt‘s keine App“ - diesen Satz sagt Mertens immer wieder im Laufe des einstündigen Gesprächs. Die „Message“, die er „rüberbringen“ will mit diesem Artikel: dass die Menschen sich mehr umeinander kümmern, sich selbst nicht gehen lassen, anpacken, Alkohol und Drogen abschwören. Vor allem aber: dass die Menschen Respekt haben - vor Lebenden und Toten.
Streit um den Fernseher
„Ich habe es schon oft erlebt, dass die Angehörigen gierig über die Sachen hergefallen sind – sogar während ich noch in der Wohnung war. Da putzt man eine drei Wochen alte Liegeleiche weg und die Angehörigen stehen im Türrahmen - „Ich kriege den Fernseher, ich kriege dies, ich kriege das“ - da sage ich: „Hallo, Leute, stopp mal eben, der Fernseher ist Müll. Den will sich niemand in die Wohnung stellen.“
Wenn jemand nach langer Zeit ganz massiv ausgelaufen ist, wenn er auf Deutsch gesagt Leichenmatsche ist, dann muss alles in die Müllverbrennung. Dann kann man nichts mehr retten. Diese Gerüche ziehen in alle Möbel. Der Dunst legt sich auf allem nieder, auch auf den Platinen des Fernsehers.
Wenn Sie so einen Fernseher anmachen - ich gebe Ihnen fünf Minuten, dann schmeißen Sie den von alleine weg. Deshalb ist es gut, dass laut Seuchenschutzgesetz in solchen Fällen ohnehin alles in die Müllverbrennung muss. Es ist im Prinzip wie ein Brandschaden, wenn die ganze Wohnung verrußt ist: Alles muss weg!“
Wenn Mertens eine Wohnung betritt, dann nur mit Gasmaske. Alles könnte ein Infektionsherd sein. Er wisse ja vorher nicht, ob der Tote Krankheiten hatte, welche Ansteckungsgefahr ihm drohe. Später trage er beim Aus- und Aufräumen immer eine Kamera am Körper.

Immer in der Beweispflicht
„Ich arbeite immer mit einer Action Cam an meiner Kappe, allein schon wegen der Beweissicherung. Als Tatortreiniger stehst du immer mit einem Bein im Knast. Wenn Angehörigen sagen, auf dem Tisch lag eine sündhaft teure Armbanduhr, dann bin ich in der Beweispflicht, dass da keine lag.“
Aber das Schlimmste, was man sich als Tatortreiniger vorstellen kann: dass man Tatorte reinigen muss, an denen ein Kind ums Leben gekommen ist, wo es Misshandlungen gegeben hat. „Bei Gewalt an Kindern komme ich psychisch an meine Grenzen. Ich habe das selbst erlebt und ich weiß, wie Kinder sich fühlen, diesen Attacken ausgeliefert zu sein.
Auch nach Fällen von häuslicher Gewalt denke ich später lange nach: Wer in Gottes Namen nimmt sich das Recht, einen anderen Menschen so zu behandeln? Ich weiß, Menschen und Tiere kann man nicht gleichsetzen. Aber auch bei Animal Hording, wenn also jemand viel zu viele Tiere in der Wohnung hält, gilt: Es sind wehrlose Lebewesen, denen ein Schicksal vorgegeben wird: Du hast so zu leben, wie ich das entscheide.“
Zu einem Teil mache er wieder das gut, was ein anderer verbrochen habe, sagt Mertens. Diese Dankbarkeit der Menschen - das sei sein Antrieb.
Jeder kann sich Hilfe holen
„Ich hatte einen Fall, nach einer häuslichen Gewalttat. Am nächsten Tag stand der Bruder zitternd vor mir, war völlig fertig und sagte: „Es tut mir so leid, dass Sie da jetzt reinmüssen.“ Da habe ich ihm gesagt: „Ich bin nicht ‚Sie’, ich bin ‚du’, ich bin der Balu.“ Dann habe ich ihn in den Arm genommen und gesagt: „Egal, wie das da drin aussieht, das kriegen wir schon wieder hin.“
Die Polizei, die Ärzte und Sanitäter - alle seien „Sie“. Aber er wolle diese Distanz aufbrechen, unterstreicht Mertens. Das nehme viel Spannung aus der Situation, „mit einem Schlag“. Der Bruder des Gewaltopfers habe ihm am Ende gesagt: „Boah, es ist so cool, jemanden wie dich jetzt zu haben!“
„Jeder kann sich Hilfe holen, wenn es um Gewalt geht oder auch um Alkoholismus. Das gibt es ja in jeder gesellschaftlichen Schicht. Vor Kurzem hat mich eine 14- oder 15-Jährige interviewt, die nicht aus Dortmund kam, sondern von weiter weg. Die hat für ein Schulprojekt nach Tatortreinigern gegoogelt und mich dann angerufen.
Als ich über Gewalt an Kindern gesprochen habe, wurde dieses Mädchen auf einmal sehr still. Da wusste ich genau, dass sie es zuhause auch nicht einfach hat, das habe ich schon durchs Telefon gemerkt. Dann habe ich ihr beim Tschüss-Sagen einfach nur gesagt: Auch du kannst dir Hilfe holen. Ich hoffe, sie tut es.“
Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Text handelt es sich um eine Neuveröffentlichung. Das erste Mal erschien er am 4. Juni 2023.

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