Zu viel Bürokratie, zu wenig Personal, zu wenig Räume, zu wenig Geld. Auf Schildern und Transparenten wurden die Sorgen in der Kinderbetreuung beim Protesttag gegen die Bildungsmisere Mitte Juni plakativ vor Augen geführt. Mehrere tausend Teilnehmer - Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Kinder - zogen durch die City und machten deutlich: Es hapert an vielen Stellen bei der Kinderbetreuung. Neben den Kitas und der Tagesbetreuung stand bei der Protestaktion vor allem die Offene Ganztagsschule (OGS), also die Betreuung an Grund- und Förderschulen, im Mittelpunkt.
Eris Turmus hat Glück gehabt. Sie hat für ihren Sohn einen der begehrten Plätze in der Offenen Ganztagsbetreuung der Herder-Grundschule in Eving ergattert. „Das war die Rettung“, sagt sie. Denn sonst wären Beruf und Familie nicht unter einen Hut zu bringen. „Ich bin sehr dankbar, dass ich einen Platz bekommen habe“, sagt auch Gülizar Bice. Ihre Töchter Ecrin und Eslem gingen sehr gerne in die OGS. „Das ist wie eine zweite Familie.“ „Hier gibt es flexible Betreuungszeiten und die Kinder sind sehr gut aufgehoben“, erklärt Eris Turmus, deren siebenjähriger Sohn Kürsat die Herder-Grundschule besucht.

Dort gibt es eine Warteliste für die OGS-Betreuung. Zehn Kinder konnten nach einer Aufstellung der Stadt in diesem Schuljahr an der Herder-Grundschule nicht versorgt werden. Stadtweit stehen mehr als 800 Jungen und Mädchen auf der Warteliste für einen OGS-Platz. Und es könnten noch mehr werden. Denn die Schülerzahlen sind zuletzt weiter gestiegen. Und ab 2026 gilt ein Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz für Grundschul-Kinder. Das fängt mit den Erstklässlern an. Ab 2029 sind dann alle Jahrgänge erfasst.
Ausbauziel ist 100 Prozent
Die Stadt arbeitet kräftig daran, die Lücke zu schließen. Wobei das mit der Frage losgeht, mit welcher Quote man die Nachfrage decken kann.
Braucht man wirklich für jedes Kind einen OGS-Platz oder reichen weniger, weil nicht alle Eltern eine Betreuung wünschen? Aktuell liegt die Quote bei 63,12 Prozent, mit Kurzbetreuung bei 67,73 Prozent, rechnet Schul- und Jugenddezernentin Monika Nienaber-Willaredt vor. Experten nennen einen Bedarf von mindestens 76 Prozent, andere von bis zu 90 Prozent. Bei der Stadt richtet man sich langfristig aber auf ein Ausbauziel von 100 Prozent ein, heißt es in der Vorlage für die Politik.
Im Schul- und Jugenddezernat treibt man deshalb schon seit Jahren den Ausbau im Ganztag voran. Trotzdem wurde das vom Rat für den Sommer 2022 beschlossene Ausbauziel nicht ganz erreicht, man blieb gut 600 Plätze unter dem Plan. Doch seitdem wurde noch einmal eine Schüppe draufgelegt.
„Wir machen Tempo“, sagt Monika Nienaber-Willaredt. Seit 2021 seien 2.647 Plätze an den Grundschulen zusätzlich geschaffen worden. Rund 300 weitere an den Förderschulen mit Primarstufe. „Da können wir durchaus stolz drauf sein“.
Allerdings werden durch steigende Geburtenzahlen und Zuwanderung auch mehr Schul- und Ganztagsplätze benötigt.

Die aktuellen Fakten, die die Verwaltung vor wenigen Monaten der Politik vorgelegt hat, wirken erst einmal ernüchternd. An 86 von 88 Grundschulen gibt es ein Ganztagsangebot, die zwei fehlenden sollen zum neuen Schuljahr folgen. 14.982 Plätze gab es im Herbst vergangenen Jahres an den Grundschulen in Dortmund. Für eine Bedarfsdeckung von 100 Prozent müssen noch etwa 9500 weitere Betreuungsplätze im Grundschulbereich geschaffen werden.
Noch aber ist die Hoffnung da, allen Kindern, die zum Schuljahr 2029/2030 einen Ganztagsplatz wünschen, ein Angebot machen zu können. 2000 neue Plätze pro Jahr nennt die Dezernentin als Ziel. „Das kann aber immer nur in Teilschritten gehen“, sagt sie, spricht selbst von einem „Rennen gegen die Zeit“.
Enge Räume im Keller
Die reinen Zahlen sind aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere sind die räumlichen Bedingungen für die OGS-Betreuung. An der Herder-Grundschule in Eving ist der Ganztag in engen Kellerräumen unter dem früheren evangelischen Gemeindehaus am Gretelweg untergebracht. Die OGS wird vom Evangelischen Kirchenkreis betrieben, dem größten Träger im Ganztagsbereich in Dortmund. OGS-Leiterin Kathrin Wester führt durch die engen Gänge. Es gibt gerade einmal zwei Räume für die Betreuungsangebote, berichtet sie. Eine kleine Holztreppe führt von hier aus durch ein Fenster in den Innenhof. Das ist der Notausgang.

Immerhin: Für das Mittagessen kann die OGS den früheren Gemeindesaal im Obergeschoss nutzen. „Das ist unser Luxus“, sagt Kathrin Wester. Für das nächste Schuljahr kann die OGS darauf hoffen, weitere Räume des Gemeindehauses nutzen zu können, profitiert damit vom Schrumpfen der evangelischen Kirchengemeinde, die das alte Gemeindehaus mittelfristig aufgeben will.
Die Zahl der Betreuungsplätze steigt zum neuen Schuljahr damit von 170 auf 200. Trotzdem reicht das nicht aus, um alle Wünsche zu erfüllen. Rein rechnerisch bleibt eine ganze Klasse übrig, rechnet Wester vor. „Und es kommen fast täglich Anfragen.“

Mit der (noch) herrschenden räumlichen Enge ist die OGS der Herder-Grundschule nicht allein. Auch dieses Problem hat man in der Verwaltung auf dem Schirm. „Wir schauen uns alle Grundschulen an, an denen es räumliche Probleme gibt“, versichert Monika Nienaber-Willaredt. Man sucht nach kreativen Lösungen etwa mit flexiblen Möbeln, mit denen man Klassenräume in Betreuungsräume verwandeln kann. Klar ist: Viele Neubauten wird es im Zuge des OGS-Ausbauprogramms nicht geben, betont die Dezernentin.
In den bestehenden Schulgebäuden besteht vor allem das Problem, die Mittagessen-Versorgung sicherzustellen. Oft muss in mehreren Schichten gegessen werden. „Mangels fehlender Mensen muss das Essen häufig in Klassenräumen oder anderen Räumlichkeiten eingenommen werden, die dazu nicht bestimmt sind“, heißt es in der Vorlage der Verwaltung.
Fachräume neu genutzt
Ein gutes Beispiel, wie man immer wieder versucht, Platz für die Ganztagsbetreuung im bestehenden Schulgebäude zu schaffen, ist die Lieberfeld-Grundschule in Wellinghofen. Auch dort hat man in zwei Kellerräumen angefangen, inzwischen verteilt sich die Betreuung über mehrere Etagen.
Fachräume der Schule sind zu Betreuungsräumen umfunktioniert worden. Bei der Einteilung hilft das offene Konzept, das man in der OGS - ebenfalls betrieben von der Evangelischen Kirche - fährt. Es gibt keine Einteilung in Gruppen, sondern Räume mit unterschiedlichen Funktionen, die alle Kinder nutzen können - etwa einen Lese- und Ruheraum, einen Rollenspielraum oder einen Lego-Raum. Die Aula der Schule wird als Atelier zum Basteln und Malen genutzt.

„Man muss oft Kompromisse machen“, erklärt OGS-Leiterin Sandra Wieghardt. „Und der Bedarf steigt jedes Jahr.“ Zum neuen Schuljahr wächst die Zahl der OGS-Plätze an der Lieberfeld-Grundschule von 195 auf 205. Dazu kommen 79 Plätze in der Kurzzeitbetreuung bis 14 Uhr. „Jedes Jahr muss neu überlegt werden, wie man alles unterbringt. Man versucht, aus den Räumen das Beste zu machen“, beschreibt Sandra Wieghardt das Dilemma.
Fördermittel für den Ausbau
An vielen Schulen versucht die Stadt, mehr Platz für die OGS zu schaffen und das Angebot zu verbessern. Geld gibt es dank der Förderung von Bund und Land immerhin. 34 Millionen Euro sind für die nächsten Jahre verplant - für Baumaßnahmen an sechs Grundschulen und die Ausstattung an bis zu 97 Grund- und Förderschulen. Knapp 4,8 Millionen Euro muss die Stadt davon selbst tragen.
Aber dann ist da noch ein Problem – die Sicherung der Qualität. Denn in der Ganztagsbetreuung sollen die Kinder nicht nur verwahrt werden, sondern auch Bildungsangebote bekommen. „Ich sehe die OGS als Ort zum Spielen und zum Lernen“, sagt etwa Christine Fresen.
Drei ihrer Kinder besuchen die OGS der Lieberfeld-Grundschule. Linda Lind nutzt dort für ihre siebenjährige Tochter Simone die Kurzzeit-Betreuung. „Wichtig ist auch das soziale Miteinander für die Kinder“, stellt sie fest.
Vorgaben des Landes fehlen
„Bildungsgerechtigkeit ist ein ganz wichtiges Thema“, sagt Jessica Großer, Referatsleiterin für den OGS-Bereich bei der Evangelischen Kirche. Es gibt aber keinerlei Standards für Personal, Raumausstattung und Programm. Ein Thema, das bei den Protestaktionen immer wieder auftaucht. „Auch wenn wir uns selbst hohe Standards setzen, bleibt gute OGS bislang Glückssache“, greift Jessica Großer einen Slogan der Demos auf.
Das Problem neben fehlenden Vorgaben ist: „Das ganze System ist unterfinanziert“, beklagt Petra Bock von der Arbeiterwohlfahrt, nach der Evangelischen Kirche der zweitgrößte Träger im OGS-Bereich in Dortmund. In der Kritik steht vor allem das Land, das bislang sowohl klare Vorgaben als auch eine ausreichende Finanzierung schuldig bleibt.
Und das wird wohl auch noch so bleiben. Denn das eigentlich im Koalitionsvertrag vereinbarte Ausführungsgesetz zur Ganztagsbetreuung wird es nun doch nicht geben, wie NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) in der vergangenen Woche angekündigt hat.
Stadt will Qualität sichern
Das stößt nicht nur bei den Trägern, sondern auch bei den Kommunen auf scharfe Kritik. Eltern und Träger wissen sich da auch mit der Stadt Dortmund einig. Die Zusammenarbeit mit der Stadt ist gut, bescheinigt Jörg Loose von der Arbeiterwohlfahrt. „Ich möchte auch Qualität sichern. Der Ganztag soll nicht nur ein Betreuungs-, sondern auch ein Bildungsangebot sein“, verspricht Monika Nienaber-Willaredt.
Schon vor der Absage des Landes an ein Ausführungsgesetz hat man daraus Konsequenzen gezogen. „Wir wollten nicht auf das Land warten, sondern haben bereits damit begonnen, einen eigenen Qualitätsrahmen für den Ganztag zu entwickeln, der eine gemeinsame Vision einer guten ganztägigen Förderung für Dortmund beschreibt“, erklärt die Dezernentin. Bis Ende November soll dieser vorliegen und anschließend diskutiert werden, wie er schrittweise umgesetzt werden kann. Dann muss die Dortmunder Politik entscheiden. „Zum Nulltarif wird es ein hochwertiges Angebot nicht geben“, sagt Monika Nienaber-Willaredt.
Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals am 10.7.2024 erschienen.
Protesttag statt Betreuung: Viele Dortmunder OGS-Türen bleiben für einen Tag geschlossen