
© Robin Albers
Punk Thomas Schulz von Neonazi getötet: Fall wird neu aufgerollt
Gedenken
Vor 15 Jahren ereignete sich in der Kampstraße eine Gräueltat: Ein Neonazi stach einen Punk nieder. Eine Tat, die Spuren hinterlassen hat. Jetzt beschäftigt sich das LKA erneut mit dem Fall.
Innenminister Herbert Reul hat veranlasst, dass die Tötung von Thomas Schulz neu untersucht wird - mit Blick auf den rechtsextremen Hintergrund. Dieser Text erschien zuerst im März 2020 - anlässlich des 15. Jahrestags der Tat. Vor dem Hintergrund der neuen Entwicklung haben wir ihn erneut veröffentlicht.
Zum Ursprungstext:
Es ist Ostermontag (28. März) 2005. Ein christlicher Feiertag, der an das Brotbrechen des wiederauferstandenen Jesu mit zwei seiner Jünger erinnert. Für Thomas Schulz aus Dortmund ist es der letzte Tag seines Lebens.
Der damals 31-jährige Schulz gehört zur Punkszene. Von Freunden wird er auch „Schmuddel“ genannt. Am Ostermontag vor 15 Jahren macht er sich mit gut 20 Freunden vom Keuning-Park mit der U-Bahn auf den Weg zu einem Punk-Konzert in der Kneipe Hirsch-Q in der City.
Es begann mit einem Streit auf der Rolltreppe
Kampstraße, Dortmunder Innenstadt, 19 Uhr: Schulz fährt mit seinen Freunden in der U-Bahn-Haltestelle eine Rolltreppe hinunter. Zeitgleich fährt der damals 17-jährige Sven Kahlin mit seiner Freundin die Rolltreppe hoch.
Kahlin ist trotz seines jungen Alters kein Niemand: Er ist ein bekanntes Gesicht der Dortmunder Rechtsextremen. Punks hasst er, nennt sie herablassend „Zecken“.
Als sich die Punks und der Neonazi auf den Rolltreppen begegnen, beschimpfen sich die beiden verfeindeten Parteien. Die Punks sagen „Scheiß Nazi“, Kahlin wettert zurück. Es bleibt beim verbalen Austausch. Denn die Punks wollen weiter zum Konzert.
Schulz entscheidet sich jedoch für die Heimreise. Ihm geht es nicht gut, er hat zu viel Alkohol getrunken, zu viel gekifft. Am Bahngleis treffen Schulz und Kahlin wieder aufeinander. Schulz will den jungen Neonazi zur Rede stellen. Wieder fliegen Beschimpfungen hin und her.
Dabei bleibt es dieses Mal aber nicht. Kahlin hat ein beidseitig geschliffenes Wurfmesser dabei, versteckt es hinter seinem Unterarm. Mit Wucht sticht er damit Schulz durch die Brust mitten ins Herz.

Vor 15 Jahren: Sanitäter versuchen, Thomas Schulz das Leben zu retten. © Florian Foltynowicz (Archiv)
Kahlin ergreift die Flucht, während Schulz blutend am Bahnsteig liegt.
Schulz wird zwar noch in ein Krankenhaus eingeliefert – wenig später erliegt er jedoch seiner Verletzung und stirbt. Der 31-jährige Thomas Schulz hinterlässt seine Frau und zwei Kinder.
Seine Freunde und Angehörigen trauern: Sie halten tagelang Mahnwachen in der Kampstraße. Bei einer Demo fünf Tage nach dem Tod von Schulz sind 2000 Menschen vor Ort. Ein Freund erzählt, dass Schulz das gefallen hätte: „Der hätte ein Fass aufgemacht!“
Sven Kahlin bleibt der rechten Szene treu
Sven Kahlin indes kommt nicht weit: Die Flucht mit der Bahn gelingt nicht, der Fahrer unterbricht die Fahrt. Der Neonazi flüchtet zu Fuß Richtung Hauptbahnhof, auf dem Weg wirft er die Tatwaffe weg. Nur Stunden nach der Tat nimmt die Polizei ihn fest.
Im Herbst 2005 beginnt der Prozess. Vor Gericht gesteht Kahlin den Messerstich, erzählt, dass Schulz und er wohl niemals Freunde geworden wären, ihm der Tod aber leid tue. Das Gericht entscheidet auf Totschlag. Sieben Jahre Jugendstrafe für Kahlin.
Die Richter am Landgericht schließen ein politisches Motiv der Tat aus. Obwohl Kahlin zu jener Zeit bekennendes Mitglied der Skinheadfront Dorstfeld, einer Neonazi-Gruppe, war. Obwohl er wenige Wochen vor der Tat an Schulz einen anderen Punk in einer U-Bahn verprügelt hatte.

Der Nazi Sven Kahlin steht auch nach dem Tod von Thomas Schulz häufiger vor Gericht. © RN-Archiv
Nach fünf Jahren Haftstrafe wird Kahlin im Jahr 2010 wegen einer guten Sozialprognose vorzeitig entlassen. Kontakte zur rechten Szene pflegte er aus dem Gefängnis weiterhin.
Im selben Jahr ist er bei einem Überfall in der Kneipe „Hirsch-Q“ in der Brückstraße dabei und schlägt dem Wirt ins Gesicht. Im November 2011 greift er zwei türkischstämmige Jugendliche auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt an. Zu der Zeit ist er auf Bewährung. Kahlin kommt wieder ins Gefängnis.
Danach geht die Nazi-Karriere von Kahlin weiter: Er ist mit neuem Nachnamen ein Teil der rechtsradikalen Northside-Hooligans und lässt 2018 Sieg-Heil-Rufe auf der Südtribüne im BVB-Stadion hören. Er ist auch bei der Nazi-Kampfsportveranstaltung „Kampf der Nibelungen“ involviert, die mittlerweile verboten worden ist. Regelmäßig tritt er als Redner bei rechten Aufmärschen auf.
Dortmund hat ein Nazi-Problem
Die Tötung von Schulz reiht sich in eine Reihe von rechtsextremistischen Gräeltaten in Dortmund ein: Im Jahr 2000 tötet der Neonazi Michael Berger drei Polizisten mit Kopfschüssen. Im Jahr 2006, ein Jahr nach Schulz, wird Kioskbesitzer Mehmet Kubasik vom NSU umgebracht.
Dass es in Dortmund ein Problem mit Rechtsextremismus gibt, ist mittlerweile bekannt. Regelmäßig gibt es Nazi-Aufmärsche, die Partei „Die Rechte“ hat einen Sitz im Stadtrat, Dorstfeld ist überregional in diversen Dokus als Nazi-Hochburg bezeichnet worden.
Die Tötung von Schulz und die Person Kahlin werden von der Dortmunder Neonazi-Szene glorifiziert. Direkt nach der Tat wurden Aufkleber mit Sprüchen wie „Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide“ in Dortmund verteilt. Im Internet feierten die Neonazis die Tat mit Kommentaren wie „Dortmund ist unsere Stadt“. Am 28. März 2015, also zum 10. Todestag von Schulz, wurden auf einer Nazi-Demo Parolen wie „Thomas Schulz, das war Sport“ und „Schmuddel hat‘s erwischt!“ skandiert.
Klaus Schäfer, Dortmunds Ex-Feuerwehrchef und nun der Nazi-Szene verbunden, wurde 2018 wegen Volksverhetzung verklagt. Er würde sich darüber freuen, wenn „bestimme Kreaturen geschmuddelt“ werden würden, kommentierte er auf Facebook. Eine Anspielung auf den Spitznamen des toten Schulz.
Rechtsextremismus und Rassismus wird Paroli geboten
Doch Dortmund wehrt sich - nicht nur mit Gegendemos gegen Aufmärsche der Rechten, die von zahlreichen Gruppen der Stadt organisiert und unterstützt werden und zu denen oft Tausende kommen.
2019 wurde nach langer Planung das bekannte und riesige Nazi-Kiez-Graffito in Dorstfeld übermalt. Und zeitweise sogar ständig von der Polizei bewacht. Mittlerweile steht dort „Our Colors Are Beautiful“ in bunten Farben, während am Gebäude gegenüber schwarz-weiß-rote Flaggen im Wind wehen.
An Schulz‘ Todestag, dem 28. März, hat es im Laufe der Jahre oft Demonstrationen und Kundgebungen gegeben. Im Jahr 2006 waren rund 800 Menschen an der Kampstraße. Zum 10-Jährigen 2015 wurde ein Trauermarsch mit fünf schwarzen Särgen organisiert – symbolisch für alle Dortmunder Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Schulz‘ Mutter weinte vor dem symbolischen Sarg ihres Sohnes.

Jedes Jahr am 28. März wird mit Kundgebungen an Thomas "Schmuddel" Schulz gedacht. © RN-Archiv
Bei dem Trauermarsch wurde auch eine provisorische Gedenktafel für Schulz aufgebaut. Eine offizielle Gedenktafel wurde lange Zeit in der Stadt diskutiert. Ein Ergebnis gibt es bis jetzt noch nicht – die Angst, eine Pilgerstätte für Nazis und Antifa gleichermaßen zu schaffen, verzögert eine Entscheidung.
Keine Demo in diesem Jahr
In diesem Jahr ist am 28. März alles anders. Das Coronavirus macht eine Demo zum 15-jährigen Todestag von Thomas Schulz unmöglich, die geplante Veranstaltung musste abgesagt werden.
Trotzdem wurde an prominenten Stellen in Dortmund mit Transparenten den verstorbenen Punk gedacht, wie ein Twitter-Account einer Dortmunder antifaschistischen Gruppierung berichtet.„Nichts und niemand ist vergessen“, steht zum Beispiel über der B1.
Die Demonstration heute musste leider ausfallen, das Gedenken nicht! Heute Nacht sind an verschiedenen Stellen Transparente aufgetaucht, die an Thomas Schulz erinnern. In den verschiedenen sozialenen Medien ist der Name "Thomas Schulz" und ein Bild von ihm zu sehen1/2 #nonazisdo pic.twitter.com/aF1xy2jVrZ
— Autonome Antifa 170 (@afa170) March 28, 2020
Die Kundgebung wurde ins Internet verlegt: Bei Radio Nordpol, organisiert von dem gleichnamigen Szene-Treff, sprechen ein Zeitzeuge und eine Organisatorin der ursprünglich geplanten Demo über die Tat vor 15 Jahren.
Nur ein Gesteck mit roten Rosen, fünf weiße Grabkerzen und zwei Plakate erinnern an der Kampstraße daran, war hier vor 15 Jahren passiert ist. Auch hier das Motto „Kein Vergeben, kein Vergessen“.

Wegen des Coronavirus fand in diesem Jahr keine Kundgebung an der Kampstraße statt. Stattdessen gab es eine provisorische Gedenkstelle für Thomas Schulz. © Robin Albers
Die Blicke von Passanten, die vereinzelt an dem sonnigen Samstag an der Kampstraße vorbeigehen, werden von der improvisierten Gedenkstätte angezogen. Einige bleiben sogar einen Moment stehen und halten inne. Andere haben Tränen in den Augen.
Schulz‘ Familie und Freunde werden an diesem Tag vermutlich auch trauern. Denn ihnen wurde vor 15 Jahren ein geliebter Mensch genommen.
1990 im Emsland geboren und dort aufgewachsen. Zum Studium nach Dortmund gezogen. Seit 2019 bei den Ruhr Nachrichten. Findet gerade in Zeiten von Fake News intensiv recherchierten Journalismus wichtig. Schreibt am liebsten über Soziales, Politik, Musik, Menschen und ihre Geschichten.
