Dortmund am Übergang vom Winter zum Frühling, Termin mit einer Frau, die eine der spannendsten Künstlerinnen ist, die diese Stadt in der jüngeren Vergangenheit hervorgebracht hat.
Warum? Darauf gibt es viele Antworten.
Eine davon lautet: Weil der bisherige Weg von Charlotte Brandi erzählt, wie mühsam und mutig Kunst als Lebensentwurf immer noch ist, speziell als Frau. Wie es aber dennoch gelingen kann, sich einen Platz zu erkämpfen im unerbittlichen Wettbewerb der Kreativen.
Plötzlich Autorin
Brandi vereint viele Talente und Rollen in einer Person: Musikerin mit Fähigkeiten an mehreren Instrumenten, Sängerin, Texterin mit starker Haltung, Theatermusik-Komponistin.
Den März verbringt sie im Studio und nimmt dort ein neues Album auf. Und sie ist gleichzeitig gerade etwas, das sie nie zuvor war: Buchautorin. Am 27. März erschien ihr Debüt-Roman „Fischtage“. Jetzt folgen Lesungen, Buchmesse-Auftritte und alles, was dazugehört.
„Fischtage“-Protagonistin Ella ist 16 und sie ist Dortmunderin. Eine Heranwachsende mit eigenen Ansichten in einer Region voller Minderwertigkeitskomplexe. „Es ist ein Roman, der sehr viel mit Dortmund zu tun hat“, sagt Brandi.
„Fischtage“ spielt in Dortmund
Bei der Begegnung im Café, das Wiener Kaffeehaus-Ambiente auf die leicht abgeschabte Ruhrgebietsweise verströmt und genau deshalb gemütlich ist, beschäftigt sie der Schreibprozess immer noch sehr. „Die Ideen für die Geschichte aufeinander loszulassen, die Ereignisse zu bauen und die richtige Sprache zu finden: Das sind so anspruchsvolle, kreative Vorgänge, dass ich gar nicht so richtig weiß, wie mir geschieht, dass ich das jetzt so lernen darf“, sagt sie. Brandi ergänzt:
„Aber das mit dem Lernen mache ich am liebsten.“

Sie lernt schnell oder vielleicht konnte sie es auch schon immer. Aber „Fischtage“ braucht nur wenige Sätze, wenige Seiten, um ein irres Erzähltempo aufzunehmen. Ella, eine innerlich zerrissenen Teenagerin erzählt von ihrer Welt in Dortmund, in der sie nichts versteht, außer, dass sie niemanden versteht.
Der Lesende ist so richtig in Dortmund. Es tauchen der Westfalenpark, die Gartenstadt, Kleingärten in Hörde oder das Käthe-Kollwitz-Gymnasium auf. Nicht auf diese leicht artifizielle Ruhrpott-Krimi/Klamotte-Art, sondern in einer ganz eigenen Erzählweise.
Wer diese Orte kennt, für den schafft das Nähe. Für alle anderen spielt dort Ellas Leben voller Gefühle, die jeder kennt, der mal selbst ein wütender Teenager war oder es innerlich immer noch manchmal ist.
Rocko Schamoni trat zur Seite
Wie sie in diese Rolle der Schreibenden hineinfand, ja eher hineingeriet, erzählt viel über die Art und Weise, wie Charlotte Brandi ihre Wege geht. Die Kurzform: Sie übernahm eine Kolumne im Rolling Stone von dem Hamburger Künstler Rocko Schamoni. Sie erfuhr das, nachdem sie ihm am Abend zuvor einen feministischen Vortrag darüber gehalten habe, dass die „alten Männer“ jetzt zur Seite treten müssten und sich nicht sicher war, wie das angekommen war.
Rocko Schamoni trat zur Seite für das laut seinen Worten „schärfste Schwert des Pop-Feminismus“. Charlotte Brandi eröffneten sich neue Chancen, als sie damit am wenigsten rechnete. Denn aus der Kolumne „Parole Brandi“ entstand ein Buchangebot. Jetzt liegt „Fischtage“ gedruckt vor ihr und in allen Buchläden.

Dieses Leben voller wilder Wirbel beginnt 1985 in Dortmund, wo Charlotte als Tochter von Klara Brandi und Peter Freiberg geboren wird. Mitten hinein in eine Welt der Musik, der Freiheit. Klara und Peter sind Teil einer Dortmunder Musik-Generation um Bands wie Cochise, Conditors und anderen. Sie schreiben an einem Stück Dortmunder Musikgeschichte mit.
Ihre Tochter „Charly“ wächst mit Ethno-Folk-Musik und mit Polit-Rock auf, während andere um sie herum Michael Jackson und anderen Plastik-Pop hören. Sie reflektiert in ihrer Kolumne die – durchaus mitunter mental schwierige Zeit - als Kind mit „einer Weste aus Schaffell“, das „Irish Folk gehört hat“.
Alles in die Musik investiert
Musik wird ihr Motor. Sie bringt sich selbst das Klavierspielen bei. „Ich war Musikerin. Da habe ich alles hineininvestiert“, sagt sie über ihr Aufwachsen.
Ein Leben mit und von der Kunst ist das, was sie sich erträumt. Ihr Weg dorthin führt sie nach der Schule zunächst an das Landestheater Tübingen, wo sie Musik zu mehreren Inszenierungen komponiert. Ihre große Begabung beginnt zu scheinen.
Sie trifft in Tübingen unter anderem auf den Schlagzeuger Matthias „Matze“ Prollöchs. Ein prägendes Kapitel beginnt. Es wird mit einer der schmerzhaftesten Erfahrungen ihrer künstlerischen Karriere enden.
2009 gründen die beiden das Duo Me And My Drummer. Sie machen Dream-Pop-Songs, die in die 2010er-Jahre passen. Das Ganze wird größer, nie riesig, aber Me And My Drummer ist fast ein Jahrzehnt lang ein zentraler Teil im Leben von Charlotte Brandi.
Das spielt mittlerweile in Berlin, das so viel mehr Musikstadt ist als Dortmund. Der Traum vom Leben mit der Musik – für Brandi scheint er wahr zu werden. Bis 2018 alles crasht, was sie sich aufgebaut hat.

Bandpartner löst Projekt auf
Ihr Bandpartner beendet das Projekt von seiner Seite. „Matze hat die Band aufgelöst und damit war alles, was ich mir aufgebaut hatte, im Klo runtergespült. Ich durfte eigentlich von vorne anfangen“, sagt sie.
Es beginnt eine Phase der Selbstreflexion, des zunächst mühsamen Neustarts als weiblicher Solo-Act. Ihre Antwort lautet, weitermachen. 2019 erscheint das Album „Magician“, noch mit englischsprachigen Texten. Auf „An den Alptraum“ von 2023 singt sie auf zum ersten Mal auf Deutsch.
Ein Album ohne Männer
„An den Alptraum“ ist ein ausdrucksstarkes Stück Musik und es ist in seiner Produktionsweise eine Besonderheit. Brandi arbeitet ausschließlich mit Musikerinnen und Technikerinnen zusammen.
Das wird in Feuilleton und in der Musikwelt als feministischer Akt rezipiert und ist natürlich auch genau so gemeint. Das Album ist entlarvende Kritik am Patriarchat mit Texten und positive feministische Selbstermächtigung in einem.
Das kann gerade in Männerohren zugleich schön klingen und inhaltlich beklemmen vor lauter Gefühl des Wiedererkennens in schlechten Verhaltensweisen. Zugleich ist es leicht und unterhaltsam und damit insgesamt bemerkenswert.
Sie selbst beschreibt die Produktion damals in vielen Interviews als befreienden und fortschrittlichen Prozess. „Ich habe mich zum ersten Mal nicht mehr wie ein kleines Mädchen gefühlt“, sagt sie 2023.
Beim Gespräch in Dortmund ist ihr Leben schon wieder einige Schritte weiter. Ihre Haltung ist geblieben: „Ich bin schon eine von denen, die außer Kontrolle geratene Männlichkeit für eins der Hauptprobleme auf diesem Planeten halten.“
Sie setzt dem einen Begriff einer Männlichkeit entgegen, „die sich selbst in konstruktive Bahnen lenkt und versucht, konstruktiv zu sein und Schwächeren zu helfen“. Brandi sagt: „Das ist eine gute Männlichkeit.“

Zurück nach Dortmund
Mit der Neuerfindung rund um das Album wachsen die Zweifel an Berlin, wo sie direkt am Hermannplatz in Neukölln lebt. „Berlin und ich haben uns aneinander ausgepowert. Ich hatte immer einen Widerstand gegen die Stadt, der nicht weggegangen ist“, sagt sie.
Sie entwickelt neue Pläne. „Um mal zu gucken, ob ich mental eigentlich stark genug bin für Dortmund“. Ob ihr jetzt die Dinge, die sie als junges Mädchen „gebremst und eingeschüchtert haben, immer noch kriegen können“.
Sie benennt damit etwas, das sie die „Dortmunder Negativität“ nennt. Den Drang, voller Selbstzweifel schon Dinge kleinzureden, bevor man sie ausprobiert hat. Sie fragt sich bis heute, woher dieser Dortmunder Komplex kommt, der sich schwer greifen lasse. „Fischtage“ ist auch der Versuch, dieses Gefühl in Worte zu kleiden.
Denn mittlerweile entdeckt sie täglich die schönen Seiten Dortmunds, etwa auf dem Bahntrassen-Weg zwischen Hörde und Innenstadt, den sie „romantisch“ nennt. Sie entdeckt die „guten Vibes“, die diese Stadt und viele der Menschen darin verströmen. Sie hat außerdem, so erzählt sie, den wahren Grund herausgefunden, warum sie immer das Gefühl in sich hatte, Dortmund zu vermissen und war davon selbst überrascht.
„Ich habe immer überlegt, was es war. Es war das Klima“, sagt sie. Das Gefühl wieder durchatmen zu können, habe ihr gefehlt nach harten Wintern und stickigen Sommern in Berlin.
Berliner Bubble
Ein beträchtlicher Teil ihres Lebens spielt sich allerdings weiterhin in einer Berliner „Bubble“ aus deutschsprachigen Indie-Musikerinnen und -Musikern ab. Namen, die andere in Brandis Alter im Schallplattenregal stehen haben, darf sie Kolleginnen und Kollegen und zum Teil auch Freundinnen und Freunde nennen.
„Manchmal hat es auch was von Schulhof. Aber zum größten Teil sind das alles feine Menschen, die ihr Bestes geben und einen guten Stil haben dabei. Und alle sind in Musik verliebt.“
Lob vom Tocotronic-Sänger
Einer dieser Menschen ist Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist der Band Tocotronic. Im Februar 2025 hat von Lowtzow dieser Redaktion ein Interview gegeben und es ging an einer Stelle auch um Charlotte Brandi und die Zusammenarbeit der beiden beim Song „Wind“.
Von Lowtzow sagte unter anderem dieses über Brandi: „Sie ist eine der besten deutschen Songwriterinnen. Ich erstarre in Ehrfurcht vor ihrem Riesentalent.“
Charlotte Brandi wirkt kurz etwas verlegen, als sie dieses Zitat hört, und kommentiert es dann lächelnd mit den Worten „Richtig süß, das freut mich sehr“. Sie habe „Dirk“ in den vergangenen Jahren einiges zu verdanken. „Er war wie meine Gesellschaftsdame, die mich in die Indie-Szene einführt“, sagt sie.
„Als Arschloch verschrien“
Ein weiterer prägender Begleiter ist Max Gruber, der als Musiker unter dem Namen Drangsal bekannt ist und mit dem Brandi aktuell in der Gruppe „Die Benjamins“ zusammenspielt.
„Wir sind zwei Sturköpfe und zwei Frontpersonen. Und das ist für uns eine tolle mentale Übung, kollektivistisch zu arbeiten“, sagt sie über das Musikmachen mit Gruber. „Ich glaube, das heilt irgendwas in uns, weil wir beide eine Zeit hatten - ich in meinen 20ern – in der wir als Arschlöcher verschrien waren und uns, glaube ich, auch so aufgeführt haben.“
Gegenfrage auf dieses offene Bekenntnis, das nicht vielen so leicht über die Lippen gehen würde wie Brandi in diesem Moment: Woran merkt man es, wenn man von jemandem für ein Arschloch gehalten wird?
„Manche sagen einem das. Und irgendwann bekommt man es zum Beispiel mit, wenn der eigene Drummer die Band auflöst“, antwortet sie.
„Schmerzhafte“ Musik
Da sind wieder die Wirbel, das Unstete, das ein Teil ihrer Karriere ist. Sie wirkt unendlich dankbar für die Erfahrungen, die sie jetzt mit dem Roman sammeln darf. „Das ist jetzt einfach ein höheres Calling, das mich noch einmal richtig fordert.“
Kurz darauf spricht sie nachdenklich über „das mit der Musik“. Es sei gerade „schmerzhaft“ und zählt das auf, was viele in der Branche beklagen: ungerechte Verteilung in Streaming-Diensten, ein schwieriger Live-Markt. Dazu der ständige Druck zur Selbstinszenierung in sozialen Medien, weil man sonst überhaupt nicht mehr stattfindet.
Doch diesem oft mühsamen Nebeneinander der Dinge zum Trotz sagt sie: „Musik bleibt immer mein bester Freund. Ob ich damit Geld verdiene oder ob sie mir gerade wehtut oder ob das keiner mag. Ich bin schon durch so viel mit der Musik gegangen. Das verzeiht man sich gegenseitig für die guten Momente.“
Gegen die Negativität
Am Ende der Begegnung bleibt der Eindruck: Es ist eine Mischung aus Kraft, Nachdenklichkeit und zugleich einer unerschütterlichen Positivität, aus der Charlotte Brandi eine bemerkenswerte künstlerische Identität geschaffen hat. Sie ist viele Umwege gegangen, hat Brüche erlebt. Und lässt sich davon den Mut nicht nehmen.
„Ich habe für mich persönlich noch nichts Besseres als Freude entdeckt“, sagt Brandi. Das ist ein sanftes Statement gegen die Negativität. Die Rastlose wird weiterhin nicht ruhen. Warum sollte sie auch? Diese Dortmunderin hat noch viel zu sagen.
Lesung und Buch
- Charlotte Brandi feiert am 3. April (Donnerstag) in Dortmund Buchpremiere. Im Literaturcafé Taranta Babu, Amalienstraße 33, liest sie ab 21 Uhr (Eintritt frei)
- „Fischtage“, Ullstein Verlag, ISBN: 9783988160263