Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow (53) im Interview „Ich bin kein Optimist. Aber ich habe Hoffnung“

„Ich bin kein Optimist. Aber ich habe Hoffnung“
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Tocotronic also. 30 Jahre Bandgeschichte schon hinter sich, eine neue Platte und eine Deutschland-Tour mit Dortmund-Termin (10. April) vor sich. Ebenso eine Rockband wie ein eigenes popkulturelles Phänomen, literarisch, musikalisch und modisch vielfach zitiert und analysiert, auch über die „Hamburger Schule“ hinaus.

Schon möglich, dass es viele gibt, denen Tocotronic vollkommen unbekannt sind. Weil es trotz Charterfolgen mancher Alben immer noch Indie-Nische ist, in der sich alles abspielt.

Aber ich weiß eins: Vermutlich würde mein Leben ohne Tocotronic anders aussehen. Nicht nur, weil die Band und die Optik ihrer Fans das Eisbrecher-Thema beim Kennenlernen meiner heutigen Ehefrau war („Du hörst doch bestimmt Tocotronic“).

Sondern vor allem deshalb, weil sie seitdem eigentlich immer irgendwie mit einer Platte da waren, wo Bewegung in meinem Leben war. Eine Band als Lebensbegleiter - ich mag sowas.

Diese Vorrede dient der Erklärung dafür, warum es eben nicht ganz gewöhnlich war, als die Stimme, die so häufig wie wenige andere aus den unterschiedlichen Lautsprecherboxen meines Lebens klang, plötzlich am Telefon war.

„Hallo, hier ist Dirk von Tocotronic“, sagt er zum Einstieg in das Interview am Morgen. Ab jetzt bin ich Profi, nicht Fan.

Trotzdem würde ich in dem Moment gerne mein 15-jähriges Ich treffen, das bei seinem Kumpel J. in dessen Zimmer im Dortmunder Kreuzviertel sitzt, und Teenager-Felix sagen, dass der Typ mit der Trainingsjacke vom CD-Cover am Telefon ist.

Also hinein in das Gespräch mit Dirk von Lowtzow, in dem es um das neue Album „Golden Years“ (erscheint am 14. Februar) geht, aber auch um traurige Bandereignisse, um Stofftiere und um Verbindungen nach Dortmund.

Dortmund und das FZW stehen seit Jahren immer auf eurer Tour-Liste. Was verbindet ihr mit der Stadt?

Ich erinnere mich an viele Konzerte im FZW, einfach weil es ein Ort ist, der uns sehr, sehr lieb ist. Wir haben früh in der Region auch immer schon hier gespielt. Es gibt in der Ruhrregion ganz viele verschiedene Konzertorte und die sind räumlich nicht so wahnsinnig weit voneinander entfernt, aber jeder hat dann doch so einen eigenen Charakter.

Ich habe noch einen weiteren Bezug zu Dortmund entdeckt durch den Song „Wind“ von 2020, eine Zusammenarbeit zwischen der Dortmunder Musikerin Charlotte Brandi und ihnen.

Ja, genau, mit Charly. Das ist ein fantastisches Lied. Sie hatte das Lied geschrieben. Ich finde, es ist einer der besten Songs in deutscher Sprache der letzten zehn Jahre, so weit würde ich gehen. Sie hatte mich eingeladen, mit ihr zusammen das Lied zu singen. Ich finde das Ergebnis ganz fantastisch. Sie ist eine der besten deutschen Songwriterinnen. Ich erstarre in Ehrfurcht vor ihrem Riesentalent. Wir kennen uns und mögen uns sehr.

Wir sprechen jetzt kurz vor Albumrelease und wenige Wochen vor dem Tourstart miteinander. In was für einer Phase ist die Band gerade?

Wir haben eine relativ lange Promophase hinter uns, mit Interviews und Fernsehaufzeichnungen. Wir bereiten uns auf die ersten Konzerte vor. Das heißt, wir proben viel und ziemlich intensiv. Es ist ja oft bei Bands so: Man hat Phasen, wo man sich manchmal wünscht, man würde so ein bisschen aus dem Alltag rausgerissen durch Interviews oder Fernsehsendungen. Und dann ist es manchmal sehr geballt. Aber es sind vertraute Abläufe.

Ihr seid in einer Situation, in der ihr nach dem Rückzug von Rick McPhail das Bandgefüge umbauen müsst. Wie ist die Konstellation aktuell?

Wir haben vor ein paar Wochen angefangen, mit Felix Gebhard zu proben. Der ist ein fantastischer Gitarrist, spielt bei der Band Muff Potter und in der Live-Besetzung der Einstürzenden Neubauten. Und er hat selbst auch noch eine sehr empfehlenswerte Band, das Instrumental-Trio „Zahn“. Das hat sich sehr gut gefügt, dass er jetzt zu uns gekommen ist.

Zu dritt – das alte Modell aus den Anfangstagen der Band – wäre nicht mehr möglich gewesen?

Ja, also wir haben kurzzeitig darüber nachgedacht, weil wir fanden, dass das einen gewissen Charme hätte haben können. Und wir hatten auch so das Gefühl, die Dynamik zwischen uns dreien, die wir so aus den frühen 90er Jahren kennen, stimmt auch. Aber es kam uns dann doch auf lange Sicht nach ein paar Proben ein bisschen zu nostalgisch vor im Soundbild und ein bisschen zu reduziert. Das wäre für ein, zwei Konzerte sicherlich charmant gewesen. Aber es ist musikalisch dann auf lange Sicht ein bisschen unergiebig.

Wie geht es für euch nach dem Ausstieg eines langjährigen Mitglieds weiter?

Es ist natürlich für uns eine Umstellung. Es ist ein sehr trauriger Umstand. Rick McPhail hat ja 20 Jahre bei uns gespielt. Das hat uns selbst sehr überrascht und unvorbereitet getroffen, zumal er auf dem Album ja auch zu hören ist. Aber ja, so ist das Leben und manchmal passieren Dinge, die man nicht vorhersehen kann. Selbst in so einer stabilen Konstellation wie bei uns.

Welche Rolle nimmt das neue Album im Tocotronic-Kosmos ein?

Boah, das müssten Sie mir sagen. Im Augenblick steht es natürlich stärker im Mittelpunkt als die älteren Alben, weil man sich mit dem Material auseinandersetzt. Welche Rolle das so im Kosmos spielt, glaube ich, müsste man als Außenstehender beantworten oder vielleicht mit etwas zeitlichem Abstand.

Dann versuche ich mal, die ersten Eindrücke wiederzugeben: Ich finde es auf eine Art mutig. Es gibt starke Melodien und Choräle zu hören, fast mit einem sakralen Anklang, die auf vorherigen Alben noch nicht so im Vordergrund standen. Und zweite Ebene ist der „Tocotronic-Krach“, der gefühlt mehr Gewicht hat.

Okay, sehr schön. Also ich habe jetzt persönlich nicht an das Sakrale gedacht, aber ich kann glaube ich nachvollziehen, was Sie damit meinen. Das harmonische Gefüge von geistlicher Musik mag ich auch sehr gerne. Ich finde, das Album kann einen stark emotionalisieren, obwohl viele Stücke auch krachig sind und so ein bisschen zu der Nonchalance der frühen Alben zurückkehren. Diese Verbindung – das finde ich eigentlich sehr schön erkannt. Da freue ich mich. Das wäre ein Effekt, den finden wir gut.

Aber der Krach – der Punk – der muss immer noch ein bisschen sein?

Ich weiß gar nicht, ob es notwendigerweise Punk sein muss. Aber Noise, das Gefühl, dass Gitarrenverstärker etwas produzieren, was sich fast so ein bisschen der Steuerung entzieht, also Feedbacks und eigene Geräusche und bestimmte Sounds, die man nicht mehr so ganz genau zuordnen kann: Das war und ist uns immer wichtig. Vor dem Verstärker zu stehen und diese Sounds zu finden ist immer ein bisschen wie surfen.

„Denn Sie wissen, was Sie tun“, eine Single-Auskopplung des neuen Albums, hat einen sehr direkten Text, pointiert-politisch gegen Hass und Lügen, aber in einem sanften Sound-Gewand. Was steht hinter diesem Song?

Es ist ein Protestsong. Wir haben in unserer Geschichte eine ganze Menge Protestsongs geschrieben und das als Format und als Genre ganz bewusst auch zitathaft beackert. Die Harmonik dieses Stückes lehnt sich ein bisschen an die Harmonik mancher Protestsongs von Phil Ochs an, einem der berühmtesten Protestsänger. Es ging darum zu zeigen, dass es immer mehr Menschen gibt, die Niedertracht zur Durchsetzung ihrer politischen und persönlichen Ziele benutzen und sie dadurch in der Gesellschaft hegemonial werden lassen. Weil sie es geschafft haben, sich eine zumindest in Teilen gewaltbereite Gefolgschaft heranzuzüchten, die genau diese Niedertracht an der Macht sehen möchte. Dagegen kämpft dieses Lied an.

Als das Vorgängeralbum „Nie wieder Krieg“ erschien, habe ich Werbung dafür auf einer Straßenbahn gesehen, während ich Nachrichten zum Ukraine-Angriff las. Jetzt erscheint „Golden Years“ in eine politisierte Zeit mit Neuwahl und Rechtsruck hinein. Wie verändert das die Lage für euch als Band?

Ich glaube, es ist schon eine Aufgabe von Kunst eine gewisse seismografische Funktion zu erfüllen. Ich glaube nicht, dass sie notgedrungen politisch sein muss. Das kann jeder für sich selbst entscheiden und ich finde, es sollte auch keinen Bekenntniszwang geben. Aber Kunst sollte schon irgendwie in einem Dialog mit der sich verändernden Gegenwart stehen. Das setzt voraus, dass man sich bewusst wird für gesellschaftliche Entwicklungen und Störungen, auch wenn sie noch gar nicht so stark spürbar sind oder vielleicht noch gerade erst im Entstehen sind.

Tocotronic sind oft als „Diskursband“ beschrieben worden. Das zielt darauf ab, dass ihr euch schon immer Gedanken darüber macht, wie wir als Gesellschaft miteinander kommunizieren. Ist denn wirklich irgendwie alles so verloren, wie es einem manchmal vorkommt? Woraus ziehen Sie Positives?

Also ich bin kein Optimist. Das ist so. Aber ich persönlich habe schon Hoffnung. Das ist ein Unterschied. Wir haben nicht umsonst auf dem letzten Album ein Lied gemacht, das „Hoffnung“ heißt und ein anderes mit dem Titel „Solidarität“. Ich glaube schon, dass man durch gegenseitige Durchdringung und auch durch Engagement Hoffnung haben kann, dass vielleicht doch nicht alles so schlimm wird. Ich fand jetzt zum Beispiel die Demonstrationen überall in Deutschland gegen das Zerbröseln der Brandmauer ein hoffnungsvolles Zeichen.

Arne Zank (l) und Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic bei einem Liveauftritt 2013 in Hamburg. Die Band existiert seit über 30 Jahren.
Arne Zank (l) und Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic bei einem Liveauftritt 2013 in Hamburg. Die Band existiert seit über 30 Jahren. © picture alliance / dpa

Was ist die Antwort auf die möglicherweise nicht hoffnungsvolle Zukunft? Mehr Härte oder mehr Stofftiere?

(lacht) Also im persönlichen Bereich würde ich sagen Stofftiere. Im politischen Bereich würde ich sagen: Entschlossenheit. Härte klingt mir persönlich jetzt zu maskulinistisch.

Daran schließe ich die Frage eines Kindes aus meinem näheren Umfeld an, die ich für das Interview mit auf den Weg bekommen habe. Wie viele Stofftiere besitzen Sie?

Das kann ich gar nicht genau sagen. Aber wir haben als Band ein eigenes Flightcase, also einen Instrumentenkoffer. Da sind keine Instrumente drin, sondern nur Stofftiere. Die dekorieren wir immer auf der Bühne. Wir haben das schon immer geliebt.

Wie oft passiert es eigentlich, dass Sie Journalisten oder auch anderen begegnen, die Tocotronic mit der eigenen Biografie verbinden?

Das passiert relativ häufig. Ich finde es aber auch ganz normal, weil genau so Popmusik funktioniert, als Soundtrack zur eigenen Biografie. Und ich würde sogar sagen, dadurch wird sie überhaupt erst zur Popmusik. Jeder Mensch, der Popsongs hört, tut irgendwie etwas in dieses Gefäß hinein, was so ein Song ist, und macht es damit zuerst zu der ästhetischen Erfahrung, die man damit haben kann.