Hans Stang ist mit 90 Jahren der älteste Student der TU Dortmund. Seit 50 Semestern, also 25 Jahren, studiert er am Musikinstitut. Unsere Autorin ist eine Kommilitonin und hat ihn getroffen.
Es gibt ein paar von ihnen am Musikinstitut der TU, so genannte „Seniorenstudenten“: Sie sind in Rente, gepflegt, immer pünktlich und perfekt vorbereitet. Meist setzen sie sich im Hörsaal oder Seminarraum in die hinteren Reihen, sind hochinteressiert und trotzdem unauffällig: vom Traum zur Wirklichkeit gewordene Musterschüler.
Bei einigen der Regelstudenten, so auch bei mir, löst ihre Anwesenheit jedoch gemischte Gefühle aus: Im Rennen um den Bachelor- oder Masterabschluss bleibt nicht annähernd so viel Zeit für die Vorbereitung einzelner Seminare. In der Regel sieht man, abgehetzt und unvorbereitet, neben den mitgebrachten Partituren der motivierten Senioren, ihren fein beschriebenen, glatten Zetteln mit Stichworten und Fragen, die sie aus ordentlichen Aktentaschen ziehen, ganz schön arm aus. Andererseits: Wie schön wäre es, so studieren zu können wie sie!
Hans Stang ist einer von ihnen, und er ist seinem Altersstudium besonders treu. Man kennt ihn am Institut: Seit 25 Jahren besucht er jedes Semester zwei Kurse und pickt sich dafür die „Perlen“ aus dem Vorlesungsverzeichnis heraus, wie er sagt. Nach dem Seminar geht er gerne nach vorne zum Dozenten, um noch ein bisschen zu plaudern – meist kennt er zum besprochenen Stoff noch irgendeine Anekdote, die er sich im Plenum verkniffen hat.
Er ist in seinem Element. Mit seiner Immatrikulation als Gasthörer direkt nach seiner Pensionierung und dem Verkauf seiner Arztpraxis in Castrop-Rauxel hat Stang sich einen Traum erfüllt: Die Musik und ihre Geschichte habe ihn schon immer fasziniert, sagt er, und endlich konnte er sich tiefgehend, hintergründig, universitär mit ihr auseinandersetzen. Die Musikwissenschaft wurde vom Hobby zu einer Art zweiten Berufung.
Die Liste beginnt im Sommersemester 1993
Vor dem Treffen schickte mir Hans Stang per Mail eine Liste – vielleicht habe man ja die Seminarbank gedrückt, ohne es zu wissen. Und tatsächlich finden sich unter den auf der Schreibmaschine getippten Kurstiteln ein paar gemeinsame. Der Zeitraum, an dem sie sich überschneiden, erscheint jedoch winzig, blättert man Stangs seitenlange Liste zu ihrem Anfang zurück. Sie beginnt im Sommersemester 1993 – da war ich gerade Zwei. Hinter den ersten Seminaren stehen Professorennamen, die Studierende und Mitarbeiter des Instituts im Jahr 2018 mit Sorgfalt aussprechen: Günter Stein (verstorben), Werner Abegg, Martin Geck, alle seit mindestens zehn Jahren emeritiert.
Es sind wenige außer Stang, die diese Koryphäen des Instituts selbst noch erlebt haben, die ihre Namen nicht nur vom Erzählen oder dicken Buchrücken kennen. Manche sind mittlerweile Mitarbeiter, andere schon längst mit dem Studium fertig. Immerhin Martin Geck gibt noch vereinzelt Seminare, die wie kleine Geheimtipps wirken: nicht übermäßig gut besucht, aber von Leuten, die sich außerhalb ihrer Pflichtkurse aus echtem Interesse dort hineinsetzen. Ein bisschen wie die Seniorenstudenten.
Für seine 90 Jahre ist Hans Stang, ein kleiner Mann mit freundlichem, rundem Gesicht, ziemlich flott unterwegs, ohne jegliche Gehhilfe. Der Regenschirm, den er dabei hat, sei auch keine versteckte Stütze, sondern wirklich gedacht für den Fall, dass es regnet, sagt er und grinst. Vor ihm auf dem sonnenbeschienenen Tisch steht eine Tasse Espresso, hochkonzentriertes Koffein, das bei einigen deutlich jüngeren Menschen allein in der Vorstellung Bluthochdruck und Herzrasen auslöst. Aber er wird schon wissen, was er tut. Schließlich ist Hans Stang 35 Jahre seines Lebens praktizierender Arzt gewesen.
„Immer so viel sehen wie möglich“
Die TU ist also beileibe nicht die erste Universität, die er von innen sieht. Bevor er 1960 die Praxis seines Vaters in Castrop-Rauxel übernahm, hatte er an fünf verschiedenen Häusern studiert und anschließend in über einem Dutzend Krankenhäuser seine anschließende Ausbildung gemacht – nie hielt es ihn lange an einem Ort. „Ich wollte schon immer so viel sehen wie nur möglich“, sagt er. „So eine Ausbildung wie ich hatte damals deshalb kaum ein anderer Hausarzt.“ In einer chirurgischen Klinik war er, in der Inneren Medizin, hospitierte in der Orthopädie und einer Hautklinik, lernte bei HNO- und Kinderärzten.
Als niedergelassener, „typischer Hausarzt“ führte er Jahre später rund 200 Hausgeburten durch, wie er sagt, und das seien die schönsten Erinnerungen an seinen Beruf: „Manchmal treffe ich heute noch Leute, die sagen: Sie haben mich doch damals auf die Welt geholt!“ In Castrop, erzählt Hans Stang, kenne ihn fast jeder. Er liebte es, Arzt zu sein.

„Ohne die Uni bin ich nicht mehr denkbar“, sagt Hans Stang. © Hannah Schmidt
So „typisch“ war er als solcher dann aber doch nicht, mit seinem nicht zu übersehenden und auch nicht zu überhörenden Hang zur Musik. Als 12-Jähriger lernte er das Klavierspiel, zunächst seinem Alter entsprechend nur mäßig begeistert. Doch ließ ihn das Instrument nicht los. Am Ende ging er fast nirgendwo mehr hin, ohne seine Tasten dabei zu haben: „Immer wenn ich ein Zimmer hatte in einer Praxis oder Klinik, habe ich mein Spinett dort hinein gestellt“, erzählt er. Und gespielt, selbstverständlich, dass es über den Flur schallte.
Mit verbundenen Augen
Selbst heute hat er noch ein kleines batteriebetriebenes Klavier, das, egal, wohin es geht, mit auf die Reise kommt. Auf einer Kreuzfahrt vertrat er kürzlich den Barpianisten, und von einem Urlaubsflug in den Norden gibt es noch ein bezeichnendes Foto: auf dem engen Sitz, mit dem Reiseklavier auf dem Schoß. Zu Hause, erzählt er, gebe es auf jeder Etage ein Tasteninstrument, sogar im Keller, damit er jeden Tag spielen kann, „nach dem Frühstück immer, manchmal auch nachmittags“. Eines der Instrumente ist ein Steinway-D-Flügel. Für ihn entschied er sich im Laden mit verbundenen Augen – „damit ich mich von der Marke nicht blenden lasse.“
Selbst im Instrumentalspiel legen also Seniorstudenten wie er die Latte für manche B.A.-Musik-Anwärter hoch, die zum Üben teilweise nur spät Abends oder nachts Zeit finden. Der eine oder andere Kommilitone übernachtete auch schonmal unterm Flügel, bis es am nächsten Morgen mit den Kursen weiterging. Mit Kaffee auf dem Tisch und strubbeligem Haar staunte selbiger ungläubig, als Hans Stang sich während des frühmorgendlichen Seminars spontan ans Klavier setzte und Nikolai Rimsky-Korsakovs „Scheherazade“ spielte, im Klavierauszug.
Es sah aus, als spiele er vom Blatt – „aber Blattspiel konnte ich noch nie“, sagt Hans Stang und lacht. „Dafür konnte ich immer schon sehr gut nach Gehör spielen. Was ich höre, weiß ich sofort auf den Tasten umzusetzen.“ Improvisieren könne er auch, „präludieren im Stile Bachs“, wie er es nennt. „Aber das können Sie niemandem zeigen. Ich spiele dann einfach nur so vor mich hin.“ Ein paar Sachen veröffentlicht er dann doch: Auf der Videoplattform Youtube gibt es Videos von ihm, wie er Fingerübungen spielt.
Wie ein wandelndes Denkmal
Wenn man sich am Musikinstitut auf dem Flur umhört, scheint es, als kenne Hans Stang jeder – wenn nicht vom Namen, so doch vom Sehen. Manche haben auch kurze Storys auf Lager, klar, man begegnet sich an einem kleinen Institut wie diesem quasi ständig und kommt auch miteinander ins Gespräch.
Spannend – das erzählen die meisten – wird es vor allem, wenn die Senioren sich dann doch mal zu Wort melden und erzählen, wie sie teilweise noch persönlich Menschen, Skandale und Konzerte erlebt haben, für die ein 22-Jähriger zwei Tische weiter erst einmal Wikipedia aufrufen würde: die deutsche Uraufführung von Dmitri Schostakowitschs Vierter Sinfonie 1963 in Dresden, die Beatles-Tournee 1966 durch Deutschland, die legendär gewordene Inszenierung des „Ring des Nibelungen“ von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth.
All das erlebte auch Hans Stang, wenn nicht persönlich, so über die Nachrichten, das Fernsehen, Erzählungen von Bekannten. Er ist wie ein wandelndes Denkmal der jüngeren Zeitgeschichte, ein Kuriosum und eine Inspiration für alle, die gerne mehr Zeit hätten, für ein Studium um des Studierens willen. Vermutlich wird der leidenschaftliche Jäger, sollte er irgendwann doch nicht mehr so gut zu Fuß sein, sogar dann noch die TU regelmäßig besuchen: „Meine Frau und ich überlegen natürlich hin und wieder, was ist, wenn wir mal ins Heim müssen“, sagt er. „Aber ich habe von vornherein gesagt: Es muss eins sein, von dem aus ich gut zur Uni komme!“
Im Dortmunder Süden groß geworden, mittlerweile Innenstadtbewohnerin. Hat an der TU Dortmund Musik mit Hauptfach Orgel, Germanistik und Bildungswissenschaften studiert, studiert jetzt zusätzlich Musikjournalismus. Seit 2010 bei den Ruhr Nachrichten. Schreibt am liebsten über Kultur und erzählt Geschichten von Menschen.