In der Türkei gibt es massive politische Proteste gegen die Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu von der sozialdemokratischen Partei CHP. Zuletzt gab es auch in Deutschland zahlreiche Demonstrationen, unter anderem in Essen. In Dortmund ist bisher keine größere Protestkundgebung geplant. Dennoch wirkt die angespannte Situation auch bis hierher. In Essen waren auch Demonstrierende aus Dortmund.
Zudem beteiligte sich der Dortmunder SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran bei einem Besuch in der Türkei an einer Solidaritätsdemonstration in der Stadt Didim. Baran sagt: „Es berührt mich, wie viele Menschen gemeinsam für Demokratie auf die Straße gehen und für die Freilassung İmamoğlus demonstrieren. Ich stehe an ihrer Seite.“
Die SPD sieht die CHP als „Schwesterpartei“ an. Die Dortmunder SPD-Ratsfraktion rief zuletzt in einem Instagram-Post auch auf Türkisch zu „Solidarität mit Ekrem İmamoğlu“ auf.

Zugleich war Dortmund auch Schauplatz von Veranstaltungen der IDU, einer Lobbyorganisation der Regierungspartei AKP, mit prominenter Besetzung. Ex-Fußballstar Mesut Özil war in einer Funktion als Parteivertreter Gast bei einem Fest zum Fastenbrechen.
Angesichts der aktuellen Ereignisse veröffentlichen wir an dieser Stelle noch einmal eine Recherche zur politischen Ausrichtung von türkeistämmigen Menschen in Dortmund, die wir im Juni 2023 anlässlich der Parlamentswahl der Türkei veröffentlicht haben.
Lesen Sie hier den Text von Juni 2023
Die Party auf den Straßen ist vorbei, es ist Zeit für die Aufarbeitung: Nach den Wahlen in der Türkei beschäftigt viele Menschen auch in Dortmund die Frage, woher der große Zuspruch kommt für die in vielen Teilen autoritäre und repressive Politik eines Präsidenten in einem Staat, in dem man gar nicht lebt?
Die Ursachenforschung erzeugt schnell Frust. Denn die Diskussion ist schon häufig geführt worden. Nach den Wahlen 2014, 2016 und 2018 – und eben jetzt, 2023.
Volkan Baran, Dortmunder SPD-Landtagsabgeordneter mit türkischer Migrationsgeschichte, sagt: „Wir haben in dieser Zeit nichts gemacht, um etwas an der Situation zu ändern, sondern im Gegenteil die Menschen nur noch mehr in die Ecke gedrängt.“
Die Macht von Wahlen
Wahlen sind im gegenwärtigen politischen System der Türkei das beinahe einzige Mittel der politischen Partizipation.
Das liegt laut Politikwissenschaftlerin Dr. Inci Öykü Yener-Roderburg von der Universität Duisburg/Essen vor allem daran, dass viele andere Möglichkeiten wie freie Presse oder Gewerkschaften nach und nach ausgeschaltet worden sind.
„Erdogan hat sich das Volk modelliert“, sagt die Politikwissenschaftlerin, die auch an der TU Dortmund forscht.

Die Expertin für politische Partizipation von Migrantengruppen hat die Stichwahl im Generalkonsulat Essen mit wissenschaftlichem Blick begleitet. Hier gaben auch Türkinnen und Türken aus Dortmund ihre Stimmen ab.
Ihre Beobachtung: „Die Sympathisanten sind mit Shuttle-Bussen, zum Teil doppelstöckig, zu den Wahllokalen gefahren worden.“ Bis zu fünfmal am Tag seien solche Busladungen mit Wählerinnen und Wählern für die Stichwahl vorgefahren.
Die Stimmen aus Dortmund
Das genaue Wahlverhalten lässt sich nur schätzen. Bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent bei der Stichwahl gaben hier rechnerisch rund 10.000 Personen aus Dortmund ihre Stimme ab. Erdogan erreichte im Wahlbezirk Essen rund 78 Prozent der Stimmen. In Dortmund hätten nach dieser Rechnung also bis zu 8000 Personen für Erdogan gestimmt.
Im Verhältnis zur Gesamtheit der Personen mit türkischer Migrationsgeschichte in Dortmund ist das nicht die Mehrheit: „Man darf es nicht vereinfachen. Viele sind nicht wählen gegangen. Nur weniger als ein Drittel aller, die hier sind, hat abgestimmt“, sagt Inci Öykü Yener-Roderburg.
Sie wolle damit verdeutlichen, dass es aus ihrer Sicht nicht helfe, zu pauschalisieren und jeden, der seine Unterstützung für Erdogan zeige, zu verurteilen. Dies verstärke die politische Isolation.
Über den staatlich finanzierten Moscheeverband Ditib besitze die AKP großen Einfluss. Die Moscheen seien nicht nur religiöser Raum, sondern „kulturelle Zentren“. 15 Standorte verzeichnet der Verband selbst in Dortmund.
Es gebe dort viele soziale Angebote für türkeistämmige Menschen, von Paartherapie bis zu Steuerberatung. „Sie füllen die Lücke überall dort, wo es von den deutschen Regierungen über Jahre verpasst wurde, Hilfe aufzubauen“, sagt Yener-Roderburg.
Lobby-Organisation in der City
Eine zentrale Rolle bei der Lobbyarbeit für die AKP spielt die „Union of Turkish Democrats“ (UID). Diese organisiert - mutmaßlich mit staatlicher Unterstützung - den Wahlkampf und andere Netzwerkarbeit.
In Dortmund hat die UID ihren Sitz in einem Gebäude im Brückstraßenviertel. Nach dem Wahlergebnis am 14. Mai war am Haus eine mehrere Meter große Türkei-Flagge zu „Erdogan, Erdogan“-Rufen aus dem obersten Stockwerk gehängt worden.
Nach der Stichwahl ist die Beflaggung dezenter. Ohnehin tritt die Gruppe öffentlich zurückhaltend auf. In Dortmund stehen unter anderem Unternehmer aus Handwerk und Einzelhandel hinter der Gruppierung.
Die junge Generation
Der Blick darauf, wer am Wall und in der Nordstadt gefeiert hat, zeigt: Es sind viele jüngere Menschen zwischen 18 und 30 darunter. Manche von ihnen zieht möglicherweise eher das fußballpartyähnliche Event an als die politische Ideologie.
Aber sie sind auch Teil der Inszenierung, mit der die AKP ihre Stärke demonstrieren will – auch und gerade im Ruhrgebiet.
„Viele von ihnen partizipieren hier an Gesellschaft und Politik. Häufig haben sie keinerlei Migrationserfahrung und würden nie im Leben in die Türkei ziehen“, sagt Volkan Baran.

Inci Öykü Yener-Roderburg schildert eine Erfahrung aus ihrer akademischen Arbeit. „Ich erlebe, dass viele nach 2000 Geborene sich nicht unbedingt deutsch fühlen, sondern ihren Bubbles zugehörig“
Bestehen diese aus einem Ditib-Umfeld, sei der Weg zu einer Unterstützung von Erdogans Politik nur noch ein kleiner Schritt. „Für sie geht es darum, zu einer Gruppe zu gehören und nicht zurückgelassen zu werden.“ Viele machten Ausgrenzungserfahrungen - obwohl sie in Deutschland geboren sind.
Einige der jungen Feiernden fühlen sich eigenen Äußerungen zufolge aber auch davon angezogen, dass die Türkei unter Erdogan nach außen militärische und wirtschaftliche Stärke demonstriere. Ein UID-Sprecher formulierte das in einem TV-Interview mit den Worten: „Die Türkei ist wieder wer.“
Die Verbindung zu Faschisten
Auf Bildern aus den beiden Wahlnächten im Mai fällt auf, dass etliche Menschen den so genannten „Wolfsgruß“ zeigen - eine Geste also, die auch für eine rechtsextreme Überzeugung steht, in deren Namen schon tödliche Verbrechen verübt worden sind und auch heute noch Gewalttaten verübt werden.
Zum Hintergrund: Die Ülkücü-Bewegung (übersetzt „Graue Wölfe“) vertritt in weiten Teilen ein geschlossen faschistisches und ultranationalistisches Weltbild, das eine türkische Großnation idealisiert und Andersgläubige ausschließt. Der „Wolfsgruß“ ist ihr Erkennungszeichen.
„Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus prägen die Ideologie der türkischen Ülkücü-Bewegung“, schreibt der Verfassungsschutz über die Gruppe.
Erdogan wird in Sprechchören, auf Plakaten und Fahnen auch in Dortmund von vielen als „Kultfigur“ gefeiert. Im Parlament paktiert er weiterhin mit der Partei MHP, die aus dem direkten Ülkücü-Umfeld gegründet worden ist.
Diese Allianz empfinden viele als wachsende Gefahr, etliche Extremismusforscher und Türkei-Experten warnen seit einigen Jahren vor einer Radikalisierung. Dies war Anfang 2023 auch ein Streitthema bei der Fortschreibung des Aktionsplans gegen Rechtsextremismus in Dortmund: Zuletzt ließen sich Verbindungen zwischen Dortmunder Neonazis und migrantisch gelesenen Gewalttätern beobachten.
Gewalt unter den Communitys
Zwischen Mitgliedern den unterschiedlichen türkeistämmigen Communitys hat der Konflikt schon seit Jahren eine andere Qualität. Es gibt Übergriffe von Nationalisten auf politische Gegner.
Wenngleich es rund um die Wahl vergleichsweise ruhig blieb, haben die Kontroversen teils eine drastische Qualität. Das zeigt etwa eine Schilderung aus einer Dortmunder Schule, laut der ein junges Mädchen von Mitschülern unter Schlägen gezwungen worden sei, sich zu Erdogan zu bekennen, was sie zuvor abgelehnt hatte. „Zum Teil verläuft die Spaltung innerhalb von Familien“, sagt auch Volkan Baran.
Welche Wege führen heraus?
Welche Wege führen aus der Dauerschleife aus Empörung, Ignoranz und neuer Empörung nach der nächsten Wahl?
Sowohl Inci Öykü Yener-Roderburg als auch Volkan Baran sehen einen Ansatzpunkt in der Ausbildung von Imamen in den Moscheen, die von Ditib unabhängig sind.
„Wir müssen uns an den vielen orientieren, die unsere Werte akzeptieren“, sagt Baran. Der SPD-Politiker sieht außerdem die Notwendigkeit von „niederschwelliger politischer Bildung“.
Von jetzt auf gleich lasse sich die Problemlage aber nicht auflösen. „Es ist eine Jahrzehnt-Aufgabe“, sagt er.
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