Es ist nur ein Foto. Aber es macht anschaulich, wie dramatisch sich das Leben von Ulrike Brings geändert hat. Das Bild zeigt eine lachende Frau auf einer Gartenparty. Es ist ihre Party, es ist ihr Garten: Das Foto zeigt Ulrike Brings auf der Feier ihres 40. Geburtstags 2006 hinter ihrem Haus in Brackel.
Die Sonne lässt ihr blondes Haar schimmern, die schlanken Füße stehen stabil in schwarzen Pumps zwischen grünen Halmen. „Das war im Juli, ein halbes Jahr später wurde ich in der Uni-Klinik Essen am Kopf operiert“, sagt die 56-jährige Mutter, als wir sie in ihrer 65-Quadratmeter-Wohnung besuchen, in der sie jetzt lebt.
Der Eingriff war notwendig, weil während der zweiten Schwangerschaft von Ulrike Brings 1996 ein sogenanntes Angiom, eine Fehlbildung eines Gefäßes, im Hirn festgestellt wurde. Die OP lief schief. Das Gefäß platzte, ein Schlaganfall war die Folge. Ulrike Brings lag ein halbes Jahr im künstlichen Koma. Als sie endlich erwachte, hatte sie keine Kontrolle mehr über ihre linke Körperhälfte. Der Arm hängt herunter, das Bein, das so fest im Leben stand, ist gelähmt. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen.
2008 kehrt sie in ihr Haus zurück. „Im selben Jahr hat sich mein Mann von mir getrennt, 2009 sind wir geschieden worden.“ Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern, ihren Ex-Mann hat sie zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Nach langer Wartezeit wohnt sie nun in einem Neubau des Spar- und Bauvereins, der für Betreutes Wohnen zertifiziert worden ist.
„Wenig behindertenfreundlich“
Aber hier will Ulrike Brings nicht bleiben. „Ich möchte ein zweites Leben beginnen“, sagt sie. Und das gehe in dieser Wohnung, in dieser Stadt nicht. Zu viele Hindernisse würden ihr Behörden und Stadtgestaltung in den Weg legen – Hürden, die sie im Rollstuhl nicht mehr überwinden kann.
Für den Alltag steht der ausgebildeten Zahntechnikerin einmal alle zwei Wochen eine Haushaltshilfe zur Verfügung. Sie ist von der Krankenkasse in Pflegegrad 3 eingestuft worden. Sieben Stunden die Woche könnte jemand vorbeikommen, um sie zu versorgen. „Aber ich finde niemanden, der zu mir nach Brackel kommt. Alle Pflegedienste haben abgewunken.“
Und dann die wenig behindertenfreundliche Infrastruktur: „Wenn ich in die Stadt will, kann ich in Brackel wegen des Höhenunterschieds nicht selbstständig aus der Straßenbahn ein- oder aussteigen.“ Dann sei sie auf einen Fahrdienst angewiesen. Sogar zum Friseur müsse sie so kutschiert werden. Und seit mehr als acht Jahren warte sie auf einen Elektro-Rollstuhl.
„Beweglichkeit verloren“
Diese Einschränkungen schmerzen, besonders „weil ich doch vorher ein ganz normales Leben hatte“. Sie habe gearbeitet, in die Rentenkasse eingezahlt, sich als Hausfrau um ihre Kinder gekümmert. Jetzt bekommt sie eine Erwerbsminderungsrente und etwas Wohngeld, wovon sie die gut 500 Euro Miete und ihren Lebensunterhalt zahlt. „Aber ich bin erst 56 Jahre alt, möchte selbstbestimmt meinen Alltag gestalten.“ Sie habe ja nur „ihre Beweglichkeit verloren, nicht ihren Verstand.“
Sie hat eine Vorstellung, wo sie ihr „zweites Leben“ beginnen möchte: 400 Kilometer nordöstlich von Dortmund, am Timmendorfer Strand. Hier hat sie Teile ihrer Kindheit verbracht, hier würde die Seeluft ihren Atemwegen guttun, attestieren ihr ihre Ärzte. „Und da oben sind sie in Sachen Inklusion viel weiter als in Dortmund. Da kann ich öffentliche Verkehrsmittel selbstständig nutzen, mich besser und freier bewegen.“ Sogar einen Platz im Betreuten Wohnen hat sie in Aussicht. Der Haken daran: 1800 Euro monatlich kostet der Platz in einer Residenz an der Ostsee.
So viel Geld kann sie aus eigenen Mitteln nicht aufwenden. Aber sie hat ja Anspruch auf Pflegeleistungen, einen Antrag auf Eingliederungshilfe beim Landschaftsverband und einen Antrag auf Kostenübernahme beim Sozialamt hat sie ebenfalls gestellt. Ihre Kalkulation: Daraus müssten die Kosten für den Aufenthalt am Timmendorfer Strand doch wohl zu stemmen sein – „die Angebote, die ich aus Derne und Hörde für Betreutes Wohnen eingeholt habe, lagen bei bis zu 3600 Euro. Da ist Schleswig-Holstein günstiger.“

Aber die zuständigen Behörden rechnen anders. Das Dortmunder Sozialamt lehnt einen Antrag bereits 2020 ab. Eine Klage dagegen zieht Ulrike Brings nach gutem Zureden der Richterin zurück. Nach Recherchen unserer Redaktion könnte sie auch direkt vor Ort – im Kreis Ostholstein – einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Das kann und will Ulrike Brings nicht – einfach aufs Blaue, ins Ungewisse an die Ostsee zu ziehen, das traut sie sich nicht zu. Seit neun Jahren verhandele sie nun mit den Behörden, müsse aber weiterhin gegen ihren Willen in Brackel ausharren. „Die Stadt Dortmund hat mich als Geisel genommen“, formuliert es Ulrike Brings drastisch. Durch eine „diskriminierende Hinhalte-Taktik“ werde sie daran gehindert, ihren Wohnsitz zu wechseln. Sie hat einen neuen Antrag beim Sozialamt gestellt.
Aber entspricht ihr subjektiver Eindruck den überprüfbaren Tatsachen? Jürgen Süshardt, Leiter des Dortmunder Sozialamts sieht das anders: „Das Anliegen von Frau Brings hat zwei Dimensionen. Einmal rechtlich: Im April dieses Jahres hat sie einen Antrag gestellt, dieser ist identisch mit dem von 2020, als sie die Kostenübernahme für Betreutes Wohnen am Timmendorfer Strand gestellt hatte. Dazu gibt es einen ablehnenden Bescheid von November 2020. Gegen diesen hat sie Einspruch eingelegt. Die Klage wurde vor dem Sozialgericht im April 2021 im Erörterungstermin zurückgezogen, nachdem die Richterin sinngemäß erläutert hatte, dass die Wohnung an der Ostsee zu teuer sei, es Frau Brings aber natürlich freistehe, dort eine preislich angemessene Wohnung zu finden.“
Und weiter: „Wenn Frau Brings jetzt den identischen Antrag, den sie 2020 bereits gestellt hatte, ein weiteres Mal stellt, bleibt uns als Sozialamt nichts übrig, als ihn abzulehnen. Da dieser Antrag bereits rechtskräftig abgelehnt worden ist.“
Das Sozialamt wolle aber trotzdem helfen: „Dazu haben wir mit dem Kreis Ostholstein Kontakt aufgenommen und mit der zuständigen Stelle in Ratekau gesprochen. Wir haben nach preiswerteren Angeboten in der Region Ausschau gehalten, mit den Pflegestützpunkten über barrierefreies Wohnen gesprochen.
Fakt ist allerdings, dass der angemessene Satz für die Unterkunft dort vor Ort 579 Euro kalt beträgt. Das bedeutet, dass die gut 1.800 Euro, die Frau Brings vorschlägt, eklatant über dem Satz liegen, dass diese Summe nicht aus öffentlichen Mitteln übernommen werden kann und darf.“
Recht auf Freizügigkeit?
Weitere Angebote wie ein erneuter Hausbesuch hat Ulrike Brings abgelehnt, denn sie sieht mittlerweile ihr verfassungsgemäß verbrieftes Recht auf Freizügigkeit verletzt. In der Tat spricht der Artikel 11 im Grundgesetz allen Bürgern ein Recht auf Freizügigkeit zu. Auch die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen pocht darauf, dass Behinderte – wie andere Menschen auch – ihren Aufenthaltsort frei wählen dürfen.
„Allerdings kann dieses Recht verfassungsgemäß eingeschränkt werden, wenn der Allgemeinheit dadurch besondere Lasten entstehen würden“, erläutert Carsten Ohm vom Sozialverband VdK. Welche Leistungen stehen Ulrike Brings dann zu? „Die Leistungen für Personen, die Pflegegrad 3 haben, sind bundesweit gleich. Die Sätze beim Wohngeld können hingegen unterschiedlich sein, das hängt vom Mietspiegel ab. Aber so ist es natürlich kaum möglich von 500 auf 1800 Monatsmiete zu kommen.“
Wichtig sei es – wie geschehen – einen Antrag auf Eingliederungshilfe zu stellen. Beim Landschaftsverband Westfalen Lippe, „um die Leistungen in Schleswig-Holstein zu erhalten, aber auch dort. Solange sie aus Dortmund und aus Schleswig-Holstein keine Bewilligung hat, hängt sie natürlich in der Luft. Hier hat sie als Schwerbehinderte keine Rechtssicherheit – das schränkt natürlich schon ihr Recht auf Freizügigkeit ein“, sagt der Experte.
Ulrike Brings bleibt dabei: „Ich möchte nur mein Recht – und das, was mir zusteht. Ich kann dieses ewige ,Tut uns leid, aber‘ nicht mehr hören.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 13. Juli 2023.
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