Salafismus
Die meisten radikalisierten Jugendlichen sind Deutsche
Das 2016 gegründete „Wegweiser“-Projekt des Innenministeriums versucht in über 60 Fällen, die Radikalisierung junger Dortmunder zu einem gewaltbereiten Islam zu stoppen. Die Mehrheit der Betroffenen stammt nicht aus der Nordstadt.
Verhüllung als Emanzipation vom westlichen Schönheitsbild und Bekenntnis zum Islam: Das Kopftuch kann bei jungen Frauen in der Radikalisierung eine Rolle spielen, aber nicht immer kommt das vor. Das Bild ist 2014 während einer Salafisten-Veranstaltung auf der Kampstraße entstanden. © Foto: Peter Bandermann
Seit zwei Jahren betreut das Multikulturelle Forum für das nordrhein-westfälische Innenministerium 64 Jugendliche, die sich in Dortmund einem radikalen Islam zugewandt haben. Über die Hälfte der 14- bis 20-Jährigen stammt nicht aus muslimischen Familien. Die meisten von ihnen wohnen nicht in der Nordstadt. Allerdings tauchen immer wieder Namen von wenigen Nordstadt-Moscheen als Orte für persönliche Kontakte auf.
Netzwerk gegen den Salafismus
64 Jugendliche in zwei Jahren, das hört sich erst einmal nach wenig an. Doch die Sozialarbeiter des Wegweiser-Projekts und ein Netzwerk aus Jugendamt, Jobcenter, Schulen und Schulverwaltungsamt arbeiten langfristig intensiv daran, eine weitere Radikalisierung zu stoppen. Nachdem das Multikulturelle Forum mit Sitz am Friedensplatz unter anderem in Schulen mehrere Multiplikatoren ausgebildet und fast 2000 Pädagogen, Eltern und Jugendliche informiert hatte, meldeten immer mehr von ihnen dem Wegweiser-Projekt einen Verdachtsfall. In 64 Fällen bewahrheitete sich die Einschätzung.
Deniz Greschner vom Multikulturellen Forum über erste Erkenntnisse: „In diesen Fällen haben wir festgestellt: Die Radikalisierung ist ein Symptom. Dahinter verbergen sich viele andere Probleme wie instabile Familienverhältnisse, Schulabbrüche, Mobbing und Diskriminierungserfahrungen – und zwar unabhängig von einem Migrationshintergrund.“ Denn über die Hälfte der überwiegend im Internet angeworbenen Jugendlichen stammten nicht aus muslimischen Familien. „Wir haben es mit Konvertiten zu tun“, erklärt die 31-jährige Sozialwissenschaftlerin.
Die Radikalisierung ist nicht das einzige Problem
Ein einziges Gespräch reiche als Reaktion nicht aus. Deniz Greschner spricht von einem intensiven Fallmanagement: „Wir haben es mit sehr komplexen Lebenssituationen zu tun und begleiten diese Jugendlichen über mehrere Monate, teilweise schon seit anderthalb Jahren, denn sie haben nicht nur dieses Radikalisierungs-Problem.“
Die Betroffenen seien in ihrer labilen Phase ideale Opfer für eine Rekrutierung durch politische Salafisten, die den Gottesstaat wollen, und würden selbst Spuren auslegen. Fast ausschließlich im Internet. Ein „gefällt mir“-Klick auf einer radikalen Seite im Internet reiche schon aus, um geködert zu werden.
Propagandavideos in deutscher Sprache
„Die Radikalisierer treten professionell auf und setzen genau auf die Zielgruppe abgerichtete Propagandavideos ein“, berichtet Kenan Kücük, der Geschäftsführer des Multikulturellen Forums, über die Arbeitsweise der Hintermänner und -frauen. Die Radikalisierungssprache ist Deutsch. Deniz Greschner: „Türkisch oder Arabisch verstehen die meisten von uns betreuten Jugendlichen nicht.“
Pädagogen und Sozialarbeiter müssten genau unterscheiden können: Der Lehrerin die Hand nicht zu geben, der an Mitschüler gerichtete Vorwurf, nicht gläubig genug zu sein, das Tragen einer 7/8-Hose bei Jungen oder die Verhüllung mit einem Kopftuch sei bei den betroffenen Jugendlichen inzwischen zu einer „Provokations-Kultur“ avanciert. „Sie fallen auf durch Protest. Wir müssen erkennen: Ist es nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit oder ist es schon die Radikalisierung?“
Kopftuch soll mit westlichen Zwängen brechen
Unter den 64 Fällen sind neun jugendliche Mädchen und zwei Frauen. Deniz Greschner beobachtet eine „verkehrte Emanzipation“, bei der auch das Tragen des Kopftuchs eine Rolle spiele. Es gehe darum, mit westlichen Schönheitsidealen und Zwängen zu brechen und später Propaganda zu betreiben, auch in der Rolle als Mutter.
Kenan Kücük geht davon aus, „dass wir noch mindestens zehn Jahre mit diesem Phänomen zu tun haben.“ Entscheidend für die Intensität des Problems in Deutschland sei auch die Situation im Nahen Osten. Der Hass auf Israel sei zentraler Bestandteil der salafistischen Ideologie.