Die Live-Station im Hauptbahnhof war über 20 Jahre lang Anziehungspunkt für Dortmunds Nachtschwärmer. Der Laden hatte einen Rock-Star als Gründer – und eine schmuddelige Vorgeschichte.

DORTMUND

, 07.07.2018, 04:28 Uhr / Lesedauer: 5 min

Der Dortmunder Hauptbahnhof ist seit jeher ein Umschlagplatz für Reisende. Unerfreulicherweise oft ist er auch ein Um-sich-schlag-Platz, wenn sich nachts mal wieder Betrunkene in den Imbissen am Bahnhofsvorplatz prügeln. Doch bis 2009 war er noch mehr: ein Umschlagplatz für Konzertfans und Partygänger. Diese Geschichte ist untrennbar mit dem Namen Live-Station verbunden.

Am Anfang ist da der große Traum eines Rock-Stars: Steffi Stephan, als Bassist von Udo Lindenbergs Panikorchester in den 80er-Jahren dick im Geschäft, will an Bahnhöfen in ganz Deutschland Konzertsäle aufbauen. Die Idee: Die Musiker touren in eigenen Band-Waggons durch die Bundesrepublik und müssen für ihre Konzerte noch nicht einmal die Bahnhöfe verlassen.

Die Live-Station - „das war eine verrückte, große Nummer“

Stephan wird bei der Deutschen Bundesbahn vorstellig. An die Überschrift seines Konzepts erinnert er sich noch heute: „Imageverbesserung von deutschen Bahnhöfen durch Einbringung von Kultur“. Die Bahn ist begeistert – und schließt mit Stephan einen Vorvertrag für 16 Bahnhöfe, unter anderem in Nürnberg, Bremen, München, Köln – und eben in Dortmund. „Das war eine verrückte, große Nummer“, erinnert sich Stephan.

Panikorchester-Bassist Steffi Stephan wollte Musiker in einem eigenen Band-Waggon auf Tour von Live-Station zu Live-Station schicken. Hier ein Promo-Foto aus der Mitte der 1980er-Jahre.

Panikorchester-Bassist Steffi Stephan wollte Musiker in einem eigenen Band-Waggon auf Tour von Live-Station zu Live-Station schicken. Hier ein Promo-Foto aus der Mitte der 1980er-Jahre. © Privatarchiv Steffi Stephan

Die Bahn nimmt die Idee so begierig auf, weil sie ein großes Problem lösen könnte: In allen großen Bahnhöfen gibt es kriselnde Kinos. Ihre goldene Zeit erlebten sie in den 1950er-Jahren, als sie Wochenschauen für wartende Bahngäste zeigten. Nach dem Siegeszug des Fernsehens verkamen die meisten von ihnen zu Porno-Kinos. Doch selbst diese Nische verschwindet in den 1980er-Jahren mit der Verbreitung von Videotheken. Es wird erwartet, dass die Schmuddel-Kinos nach und nach zu machen.

Zufällig schließt von den 16 Pornokinos, für die Stephan einen Vorvertrag gemacht hat, zuerst das in Dortmund. Also fängt der Musiker 1986 hier mit der Verwirklichung seines Traums an: Er übernimmt die leerstehenden Räume im ersten Stock des Hauptbahnhofes, an den Aufgängen zu den S-Bahn-Gleisen. Steffi Stephan lässt die alten Stuhlreihen herausreißen, packt Konzerttechnik und Tresen hinein – fertig seine erste Live-Station, ein Konzertsaal für 500 Menschen.

Live-Station wechselt für 80.000 Euro den Besitzer

Doch sie bleibt auch seine einzige. „Allein fehlten mir für die Konzertsaalketten-Idee die finanziellen Mittel und ich fand keinen geeigneten Partner.“ Als die große Lösung gescheitert ist, verliert der Münsteraner Steffi Stephan das Interesse an seiner Dortmunder Live-Station.

Schon Ende 1986 verkauft Stephan seine Live-Station für 80.000 Mark Ablöse an die Dortmunder Konzertveranstalter Oliver Buschmann und Reiner Keuchel. Die beiden geben dem Laden sein endgültiges Gesicht: Sie verlegen den Boden neu, bauen Podeste ein. Vor der alten Leinwand, wo die Bühne ist, wird die Schräge des Kinosaals durch Stufen ausgeglichen. So entstehen mehrere Terrassen, auf die schwere Stehtische kommen. Ein paar Jahre später kommt noch die breite Galerie dazu, auf die mehrere Treppen von der Tanzflächen-Ebene führen. Sie verläuft über der Bar und entlang der Seiten zur Bühne. Und über allem hängt in sechs Metern Höhe eine große Diskokugel.

So viel Heu auf der Bühne, das man die Band nicht mehr sieht

Buschmann und Keuchel führen die Live-Station als reinen Konzert-Ort weiter. „Wir waren damals die einzige Konzert-Location der Innenstadt“, sagt Buschmann, „und zentraler als wir konnte man gar nicht liegen.“ Sie geben Gas: „Manchmal hatten wir 25 Konzerte im Monat“, erinnert sich Buschmann: Rock, Reggae, Jazz, aber auch Kabarett und Klamauk. Die Ärzte treten hier auf, Udo Lindenberg, Jimmy Cliff, Bad Religion, Element of Crime und auch Rosenstolz.

Bei den Konzerten geht es oft hoch her: Als die Berliner Cow-Punk-Band „The Waltons“ in der Live-Station spielt, werfen die Zuschauer so viel Heu auf die Bühne, dass man die Band kaum noch sieht. Und beim Auftritt von Blues-Star Johnny Guitar Watson springt der Gitarrist von der Bühne und spielt sich durch die gesamte Galerie.

Über 2000 Konzerte gab es in all den Jahren in der Livestation - entsprechend viele Programmhefte gab es auch.

Über 2000 Konzerte gab es in all den Jahren in der Livestation - entsprechend viele Programmhefte gab es auch. © Oliver Schaper (Archivbild)

Helge Schneider: „Die Live-Station gehörte damals zur klassischen Konzertrunde durchs Ruhrgebiet.“

Unter den vielen Künstlern, die im Laden am Dortmunder Hauptbahnhof auftreten, ist auch Helge Schneider. „Die Live-Station gehörte damals zur klassischen Konzertrunde durchs Ruhrgebiet“, sagt Schneider, auch wenn die Akustik nicht berauschend gewesen sei.

Zwei- oder dreimal spielt der damals noch unbekannte Musiker dort – entgegen einer Legende sind es aber nicht seine ersten Auftritte. Der Erfolg ist trotzdem überschaubar: Es kommen nur etwa 50 Zuhörer. „Die Leute taten sich am Anfang schon schwer mit dem Humor und dem Jazz“, sagt Schneider heute. Er ist auch privat als Gast ein paar Mal in der Live-Station: „Das war eine schöne Zeit, die Bands waren ziemlich bunt.“

Eine knappe Million Mark Schulden

Wirtschaftlich geht das Konzept der Live-Station jedoch überhaupt nicht auf. Nach nur zweieinhalb Jahren hat die Konzert-Location rund 750.000 Miese gemacht. „Die Produktionskosten waren viel zu hoch“, sagt Buschmann. Die Konzerteinnahmen reichen nicht, um sie zu decken, dazu kommen noch 3000 Mark Miete pro Monat. Und da die Live-Station eine kommerzielle Gesellschaft ist, gibt es auch keinen Pfennig öffentliche Förderung.

Buschmann und Keuchel brauchen Geld. In der Not beschließen sie, es mal mit einem Disko-Abend zu versuchen. Eine Entscheidung, die die Live-Station retten wird. Denn nach etwas Anlaufzeit schlägt die Disko voll ein. Bald gibt es vier Party-Abende und nur noch zwei bis drei Konzerte die Woche.

„Wer kein Nazi und nicht zu besoffen war, kam immer rein“

Los geht es normalerweise gegen 22 Uhr, gegen 23 Uhr ist der Laden gut gefüllt, gefeiert wird oft bis 6 Uhr. Die Tür-Politik ist locker: „Wer kein Nazi und nicht zu besoffen war, kam immer rein“, sagt Buschmann, der heute das Eventschiff Herr Walter im Hafen betreibt.

Davon profitiert auch Marion Wendel. Die Dortmunderin ist damals 16 Jahre alt – eigentlich zu jung für die Live-Station. Doch oft genug kommt sie rein. „Und wenn nicht, war das auch egal. Die Treppe zur Disko hoch war alleine schon ein gut gefüllter Treffpunkt.“

Die Live-Station von außen, aufgenommen 2006. Selbst wenn man nicht hinein kam, war die Treppe, die zur Disko hinauf führte ein beliebter Treffpunkt.

Die Live-Station von außen, aufgenommen 2006. Selbst wenn man nicht hinein kam, war die Treppe, die zur Disko hinauf führte ein beliebter Treffpunkt. © Knut Vahlensieck (Archivbild)

Drinnen ist das Gedränge oft groß. Auf die Tanzfläche passen rund 150 Leute, wer sich wirklich produzieren will, entert die Bühne, deren Aufgänge immer offen sind. Wer lieber das Treiben beobachten will, hängt auf der Galerie herum. Ist der Laden richtig voll, wird der alte Vorführraum des Kinos zu einer Bar umfunktioniert. „Wir hatten eine Durchreiche vom Vorführraum zum ehemaligen Kinosaal in die Wand gekloppt, durch die wir auf der Galerie Flaschenbier verkauften“, sagt Buschmann.

Live-Station war Startpunkt der internationalen Karriere von DJ Firestarter

Chris Stemann erlebt die Partynächte aus nächster Nähe. Heute ist Stemann ein international gefragter DJ, unter dem Künstlernamen DJ Firestarter legte er bereits bei der After-Show-Party der Oscars oder der Auslosung der Fußball-WM 2009 in Südafrika auf. Seine Karriere begann 2001 in der Live-Station. „Ich habe der Live-Station viel zu verdanken, durch sie wurde ich bekannt“, sagt er.

Stemann, der schon seit 1996 als Nebenjob an der Kasse und der Garderobe arbeitet, hebt damals die Firestarter-Partyreihe aus der Taufe, die bis heute erfolgreich läuft, mittlerweile im FZW. „Es sollte eine 90er-Rock- und Alternative-Party mit viel Gitarren und ein bisschen Metal sein“, sagt Stemann. Nach ein paar Monaten ist sie ein Publikumsmagnet. „Da kamen plötzlich 800, manchmal auch 1000 Leute.“

Hören Sie in den Soundtrack der Live-Station hinein - ausgewählt von DJ Firestarter:

Während in anderen Diskos der DJ mitten im Geschehen ist, liegt der DJ-Käfig in der Live-Station etwas abseits auf der Galerie links oben neben der Bühne. „Ich fand das sehr angenehm, da hatte ich einen guten Blick auf die Tanzfläche und doch meine Ruhe.“ Nur der gesundeste Arbeitsplatz war es nicht. Der Rauch unzähliger Zigaretten hing unter der Decke. „Es war so verqualmt, man brauchte keine Nebelmaschine.“

Die Toiletten sind riechbar abgerockt, der Diskokugel fehlen Glassplitter

Auch wenn die Firestarter-Reihe nochmal richtig durchstartet, naht Anfang der Nuller Jahre langsam das Ende der Live-Station: Die Deutsche Bahn löst den langfristigen Pachtvertrag auf, fortan wird er nur noch immer um ein Jahr verlängert, später sogar nur noch monatsweise. Schon länger gibt es Pläne, den Hauptbahnhof umzubauen und zu modernisieren – nun werden sie konkreter.

Die Betreiber machen nur noch das Nötigste im Laden, größere Summen stecken sie nicht mehr hinein. Das sieht man der Live-Station bald auch an: Die Toiletten sind in den letzten Jahren riechbar abgerockt, der Diskokugel über der Tanzfläche fehlen einige Glassplitter. „Seinen Zenit hat der Laden überschritten, musikalisch und optisch“, schreiben die Ruhr Nachrichten damals. „Auf dem Tanzboden wird lässig ‚geschiggert‘, bei The Prodigy, Faithless und den Chemical Brothers kommt Stimmung in die Bude. Arme hoch, Freudenjohler! Heimathafen Live Station: Ü-30 lebt!“

Die letzte Party in der Live-Station 2009: Der Laden hatte seinen Zenit überschritten.

Die letzte Party in der Live-Station 2009: Der Laden hatte seinen Zenit überschritten. © Oliver Schaper

Im April 2009 muss die Live-Station schließlich dicht machen. Der millionenschwere Umbau des Bahnhofsgebäudes beginnt – und in den Plänen der Bahn ist kein Platz mehr für die Disko. Heute beherbergen die 600 Quadratmeter, die 23 Jahre lang die Heimat der Live-Station waren, Technikräume für die Lüftungsanlage und ein Büro.

Für viele war die Live-Station der Schritt in eine andere Welt

Für Ex-Stammgast Thomas Guntermann wird die Live-Station aber immer irgendwie da sein. „Manchmal, wenn ich noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Zuges habe, steige ich die Treppen zur alten Live-Station hoch und stelle mich ans Geländer“, sagt Guntermann, der in den 80er-Jahren wilde Moshpits, aber auch Konzerte mit nur drei zahlenden Gästen erlebt hat.

„Für mich war dieser Club so etwas wie das Gleis 9 ¾ des Hogwarts-Express, der Schritt in eine andere Welt. Man sieht das Leben auf dem Bahnhofsvorplatz und mit einem Schritt ‚durch die Wand‘ ist man in einem der besten Live-Clubs des Landes. Auch dafür habe ich die Live-Station immer sehr geliebt.“

Lesen Sie jetzt