Wohnungslose kommen vermehrt von Bochum nach Dortmund, um hier zu betteln - was sich auch am Westenhellweg bemerkbar macht. Experten haben eine Erklärung für diese Entwicklung.
Michael ist noch gar nicht so lange hier. Seit ein paar Monaten sitzt der 52-Jährige täglich auf dem Westenhellweg und hofft, dass die Passanten ein bisschen Geld in den Plastikbecher vor ihm werfen. Und trotz dieser vergleichsweise kurzen Zeit auf der Straße hat er in der jüngeren Vergangenheit eine Veränderung bemerkt: „Anfangs lief es besser. Mittlerweile sind hier viel mehr Leute, die betteln - auch aus anderen Städten. Und das ist für uns Dortmunder natürlich schlecht.“
Schon über 10 Euro glücklich
Mehr oder weniger von einem auf den anderen Tag seien Menschen von auswärts hinzugekommen, erzählt der 52-Jährige, den familiäre Probleme aus der Bahn warfen: „Die Neuen kommen vor allem aus Bochum und Witten.“ Und dieser Zustrom nervt Michael, der nach eigener Aussage schon glücklich ist, „wenn ich 10 Euro für Essen und ein paar Zigaretten zusammenbekomme“.
Doch nicht zuletzt aufgrund der größeren Anzahl an Bettlern werde es immer komplizierter, diese Summe zusammenzubekommen, erzählt der Dortmunder, der momentan bei einem Kumpel im Keller wohnt: „Wir hatten es früher schon schwer. Aber für ein paar Euro sitze ich mittlerweile oft den ganzen Tag hier. Man kriegt ja kaum noch was.“
Ein besseres Leben in Dortmund
Menschen, die nach Dortmund kommen, weil sie sich hier ein etwas besseres Leben und in einigen Fällen auch ein bisschen mehr Geld in ihrem Becher versprechen als anderswo? Gibt es das tatsächlich? „Ja“, sagt Bastian Pütter, Leiter des Straßenmagazins „Bodo“, der die Szene bestens kennt. Vor allem aus Bochum seien Wohnungslose nach Dortmund gewechselt.

Der 28-Jährige Dennis verkauft seit zwei Jahren das Straßenmagazin "Bodo". Auch er stellt bezüglich der Wohnungslosen in der City fest: "Die Stadt ist voll." © Michael Schuh
In erster Linie liege dieser Zuwachs an der coronabedingten zeitweiligen Einstellung fast aller Versorgungshilfen in der Nachbarstadt, so Pütter: „Entscheidend war der Anfang der Coronakrise, als zum Beispiel die Bochumer Suppenküche für lange Zeit komplett schließen musste.“ Wenngleich auch Dortmunder Einrichtungen wie das Gast-Haus, die Kana-Suppenküche oder der Wärmebus ihr Angebot einschränkten, habe es hier bei mehreren Institutionen durchgehend ein warmes Essen gegeben.
„Viel Dankbarkeit erlebt“
Diese Essensausgaben, aber auch Gutscheine für Supermärkte, seien, so der Bodo-Leiter, von den Bedürftigen stark in Anspruch genommen worden: „In Zeiten, in denen das Geld extrem knapp war, waren die Menschen wirklich froh, etwas auf die Gabel zu kriegen. Wir haben in dieser Zeit viel Dankbarkeit erlebt.“
Einen weiteren Grund dafür, dass Wohnungslose nach Dortmund kommen, sieht Pütter in den strengen Regelungen der Übernachtungsstelle für Wohnungslose, die in Bochum von der Inneren Mission des Diakonischen Werkes betrieben wird. Zwar bot diese Übernachtungsstelle im Fliednerhaus nach einer kurzen Pause ebenfalls „Essen to go“ an und wurde zudem kurzfristig in eine 24-Stunden-Herberge für Obdachlose umgewandelt; aber aufgrund der dortigen Corona-Auflagen sei das Angebot - so Pütter - für viele, die ansonsten auf der Straße leben, keine Alternative gewesen.
Tagelang in Quarantäne
Tatsächlich mussten die Gäste der 24-Stunden-Herberge während der Lockdown-Zeit in Quarantäne, bestätigt Jens-Martin Gorny, Sprecher der Diakonie Ruhr. Das heißt: Wer dort über Nacht blieb, durfte das Haus aus Infektionsschutzgründen tagelang nicht verlassen.
„Es galten die Regeln wie beispielsweise in einem Seniorenheim“, erläutert Gorny, „die Menschen im Fliednerhaus haben fast wie in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt.“ Allerdings weiß der Diakonie-Sprecher auch von Wohnungslosen, die dieses Angebot nicht in Anspruch nehmen wollten.
Kasernierung unerwünscht
Dies führte zu einer Abwanderung nach Dortmund, sagt Bastian Pütter. Und das, obwohl die Übernachtungssituation hier nicht unbedingt besser sei: „Aber viele Wohnungslose möchten sich nicht kasernieren lassen. Und die haben sich dann wohl gedacht: Wenn ich in Bochum eh draußen schlafen muss, dann kann ich auch nach Dortmund oder Essen gehen.“ Denn einerseits sei die Versorgungslage in Dortmund selbst zu Coronazeiten besser gewesen als in Bochum, andererseits war in der größeren Innenstadt schlichtweg mehr los.
Die Folge bekommen Menschen wie Patrick zu spüren, der seit zwei Jahren in Dortmund auf der Straße lebt und auf dem Westenhellweg schnorrt: „Es sind echt viele neue Leute hierhin gekommen, auch zum Hauptbahnhof. Früher kannte man sich, heute sind viele Unbekannte dabei.“ Und dieser Zuwachs wirke sich negativ auf seinen Verdienst aus, sagt der 34-Jährige: „Was ich früher in einer Stunde kriegte, dafür brauche ich heute zwei oder drei Stunden.“
„Die Stadt ist voll“, stellt - angesprochen auf Wohnungslose - auch der 28-jährige Dennis fest. Und er muss es wissen: Seit zwei Jahren verkauft Dennis die „Bodo“ - und bemerkt dabei einen Rückgang in der jüngeren Vergangenheit. Das führt er allerdings weniger auf den Zustrom aus Bochum als vielmehr auf die Coronakrise zurück: „Leute aus der Risiko-Gruppe kommen nicht mehr.“
Auch in Bochum neue Gesichter
Nun könnte man meinen, der Wechsel in andere Städte führe dazu, dass nun weniger Wohnungslose zum Bochumer Straßenbild gehörten. Dem sei aber keineswegs so, sagt Pütter. Vielmehr bemerke er auch dort eine Zunahme an neuen Gesichtern: „Diese Menschen kommen wahrscheinlich daher, wo es ihnen noch schlechter geht. Zum Beispiel aus Rumänien.“