Diagnose Multiple Sklerose – auf dem Rücken eines Pferdes blüht schwerkranker Patient auf

© Stephan Schütze

Diagnose Multiple Sklerose – auf dem Rücken eines Pferdes blüht schwerkranker Patient auf

rnTherapeutisches Reiten

Dieter Hanke bekam vor 37 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose. Mittlerweile ist er auf einen Rollator angewiesen. Doch wenn er auf Wallach Mondbär sitzt, fühlt er sich frei wie ein Vogel.

Somborn

, 22.09.2019, 12:00 Uhr / Lesedauer: 2 min

Der Mittwoch gehört für den 67-jährigen Dieter Hanke zum schönsten Tag der Woche. Denn immer mittwochs geht es für den Castrop-Rauxeler nach Somborn, zum kleinen Pferdehof der Hippotherapeutin Michelle Bartel.

Alleine könnte er die Autofahrt nicht bewältigen, denn Dieter Hanke hat seit 37 Jahren Multiple Sklerose. Am Steuer saß er schon lange nicht mehr. Das übernimmt seine ehrenamtliche Betreuerin Armoneit Gerke, die sich auf die therapeutische Reitstunde genauso freut wie der Schwerkranke.

Um kurz vor 10 Uhr treffen sie in der Regel am Hof an der Somborner Straße ein. Heute ist das nicht anders. Auch der hofeigene Rollstuhl steht schon bereit, für einen Rollator ist der Weg zu matschig und uneben. Das Sprechen fällt Dieter Hanke schwer, aber er muss auch gar nichts sagen. Seine Augen leuchten wie die eines kleinen Kindes an Weihnachten, als er „sein“ Pferd Mondbär entdeckt. Ein ausgebildetes Therapie-Pferd.

Michelle Bartel legt Dieter Hanke einen Körpergurt an. So kann sie ihn während der gesamten Reiteinheit festhalten und sichern.

Michelle Bartel legt Dieter Hanke einen Körpergurt an. So kann sie ihn während der gesamten Reiteinheit festhalten und sichern. © Stephan Schütze

Reiten mit seitlich ausgestreckten Armen

Wer es nicht mit eigenen Augen sieht, wird es kaum glauben: Fast ohne Hilfe schafft es der MS-Patient, der auf einer Stufe steht, auf den Rücken des Pferdes. „Das haben wir auch lange geübt“, sagt Michelle Bartel (43). Die volle Aufmerksamkeit der Physiotherapeutin mit der Zusatzausbildung Hippotherapeutin gehört in den nächsten 20 Minuten allein ihrem Patienten.

Vorsichtig setzt sich Mondbär in Bewegung. Michelle Bartel hält den Reiter die ganze Zeit an einem Körpergurt fest. Den speziellen Therapiegurt am Pferd braucht der MS-Patient nicht, zwischendurch reitet er sogar mit seitlich ausgestreckten Armen.

„Diese Hippotherapie ist eine wunderbare Medizin, nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seele“, sagt seine Betreuerin Armoneit Gerke. Wie jeden Mittwoch steht sie am Rand des Reitplatzes und beobachtet, wie ihr Schützling Pferdeschritt für Pferdeschritt aufblüht.

Liebevoll begrüßt Dieter Hanke den 11-jährigen Barockpinto-Wallach Mondbär, der ein ausgebildetes Therapiepferd ist. Zu Michelle Bartels Patienten gehören auch Kinder.

Liebevoll begrüßt Dieter Hanke den 11-jährigen Barockpinto-Wallach Mondbär, der ein ausgebildetes Therapiepferd ist. Zu Michelle Bartels Patienten gehören auch Kinder. © Stephan Schütze

Balsam für die Seele

Die frische, kühle Luft, die scheuen Sonnenstrahlen, das Zwitschern der Vögel, die Freiheit, die er auf Mondbärs Rücken spürt, das warme Fell unter ihm sind Balsam für Dieter Hankes Gemüt. Was aber noch viel wichtiger ist: 20 Minuten lang wird seine geschwächte Muskulatur angeregt. „Herr Hanke bekommt durch das Pferd 100 Bewegungsimpluse pro Minute“, erklärt Michelle Bartel. Die dreidimensionalen Schwingungen im Schritt-Tempo seien mit dem Bewegungsmuster des menschlichen Gangs verwandt. Sie würden sich auf sein Becken übertragen und fehlende oder verloren gegangene Bewegungsmuster im Gehirn reaktivieren. „Auch Atmung, Sprachzentrum und Gleichgewichtssinn profitieren davon“, erklärt Michelle Bartel.

Betreuerin Armoneit Gerke ist jedes Mal aufs Neue begeistert: „Nach dem Reiten funktioniert sein gesamter Bewegungsapparat viel besser. Sogar sein rechtes Bein, das unter ein Spastik leidet, kann er dann ohne Hilfe anheben.“

Fast ohne Hilfe schafft es Dieter Hanke auf den Rücken von Mondbär.

Fast ohne Hilfe schafft es Dieter Hanke auf den Rücken von Mondbär. © Stephan Schütze

Therapie-Einheit dauert 20 Minuten

Die Therapie ist auf 20 Minuten beschränkt. „Sonst wird es für den Patienten zu anstrengend. Zum Ende lässt die Konzentration merklich nach, und er wird müde“, so Michelle Bartel. Davon ist allerdings noch nichts zu spüren, als sich Dieter Hanke vom Pferderücken nach unten in den Rollstuhl gleiten lässt. Mondbär steht ganz still, er senkt auf Kommando sogar seinen Kopf, um dem Patienten das Absteigen zu erleichtern.

Nach Hause geht es aber noch nicht. Mondbär bekommt seine wohlverdienten Möhren, und Hund Muck möchte gestreichelt werden. So bleibt der 67-Jährige noch eine ganze Weile entspannt im Rollstuhl sitzen. Ganz offensichtlich genießt er die Gesellschaft von Mensch und Tier. „Viel Abwechslung hat er ja sonst nicht. Die familiäre, liebevolle Atmosphäre hier tut ihm gut“, sagt seine Betreuerin. Dieter Hanke muss nichts sagen. Sein Gesichtsausdruck spricht Bände.

Eine Therapieeinheit kostet 40 Euro

  • Multiple Sklerose (MS) ist eine autoimmune, chronisch-entzündliche neurologische Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen.
  • Die Kosten für eine Hippotherapie werden von den gesetzlichen Krankenkassen mit Hinweis auf die nicht bewiesene Wirksamkeit bislang nicht übernommen.
  • Mit einer neuen Studie möchte die Willi-Drache-Stiftung eine Neubewertung anstreben, die zu einer Kostenübernahme führen soll.
  • Hippotherapie ergänzt die Physio- und die Ergotherapie, ist aber kein Ersatz. Auch bei Schlaganfall, Parkinson, Querschnittlähmung oder Amputation wird sie eingesetzt.
  • Eine Therapieeinheit bei Michelle Bartel kostet 40 Euro.
  • Erreichbar ist sie unter (0172) 56 44 797 oder über ihre Homepage: www.hippotherapie-dortmund.de
  • Michelle Bartel ist Mitglied im Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V.
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