Eine 15-jährige Dortmunderin will nicht mehr zu Hause leben. Durch den Partner ihrer Mutter erfahre sie Gewalt, lautet der Vorwurf. Äußere Spuren wie blaue Flecke gibt es nicht. Was genau stattgefunden hat, lässt sich nicht klären, aber alle Einrichtungen und Beteiligten sind sich einig: Es wäre besser, das Mädchen aus der Familie zu nehmen. Doch man findet keinen Unterbringungsort für sie. Deutschlandweit nicht.
Es ist ein Fall, den Martina Furlan bei ihrer Arbeit im Kinderschutzbund erlebt hat, den sie in Dortmund leitet.
Die Zahl der sogenannten Inobhutnahmen ist im Jahr 2022 in Deutschland deutlich gestiegen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, nahmen die Jugendämter in Deutschland im vergangenen Jahr über 66 400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut. Das waren im Vergleich zu 2021 rund 40 Prozent mehr. Auch in Dortmund ist die Zahl deutlich gestiegen.
Wie die Stadt auf Anfrage mitteilt, habe das Jugendamt im Vergleich von 2021 zu 2022 einen Anstieg um 36,3 Prozent festgestellt. In Fallzahlen bedeutet das einen Anstieg von 263 auf 987 Fälle im Jahr 2022.
Dortmund liegt damit auch in etwa auf dem Niveau von NRW. Landesweit haben die Jugendämter im Jahr 2022 35,7 Prozent mehr Kinder und Jugendliche in Obhut genommen als im Jahr zuvor. Mehr Fälle gab es zuletzt im Jahr 2016, teilt IT.NRW als Statistisches Landesamt mit.
Die 15-Jährige haute schließlich von zu Hause ab. Ihre Mutter hatte sich zwar von ihrem Partner getrennt, trotzdem war er immer noch regelmäßig in der Wohnung. Das Mädchen versuchte zunächst bei Schulfreundinnen zu übernachten. Sie schwänzte die Schule. Schließlich wusste niemand mehr, wo sie ist. „Bei einer 15-Jährigen, die tagelang verschwindet, gehen natürlich alle Alarmglocken an“, sagt Martina Furlan.
Wie im Sozialgesetzbuch verankert ist, ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn einer der folgenden Gründe vorliegt:
- Ein Kind bittet darum.
- Es besteht eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes.
- Ausländische Minderjährige reisen unbegleitet nach Deutschland ein und weder „Personensorge- noch Erziehungsberechtigte“ halten sich in Deutschland auf.
Gründe für Inobhutnahmen in Dortmund
In welcher Häufigkeit Kinder und Jugendliche wegen den oben genannten Gründen in Obhut genommen worden sind, erfasse die Stadt statistisch nicht, teilt sie mit. Bei IT.NRW finden sich jedoch Zahlen dazu.
Im Jahr 2022 waren in Dortmund die meisten Fälle von Inobhutnahmen auf unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer (338) zurückzuführen. An zweiter Stelle folgt als der Grund „Überforderung der Eltern“ (222 Fälle.) Bei der Meldung einer Schutzmaßnahme können mehrere Anlässe angegeben werden.
Die 15-jährige Dortmunderin tauchte schließlich unbeschadet wieder auf. „Alle wären froh gewesen, wenn es zeitweise eine Unterbringung gegeben hätte“, sagt Martina Furlan. „Aus der Distanz heraus hätte man die Probleme aufarbeiten und den Versuch starten können, Annäherung zu ermöglichen.“
In dieser Enge sei es fast zwangsläufig gewesen, dass die Situation noch weiter eskaliere, sagt die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in Dortmund.
Für das erste Quartal 2023 liegt die Anzahl der Inobhutnahmen in Dortmund bei 194, davon entfallen knapp 60 Fälle auf unbegleitete Minderjährige. Das entspricht einem Anteil von rund 30 Prozent der Inobhutnahmen.
Im zweiten Quartal 2023 liegt die Anzahl der Inobhutnahmen bei 210. Davon sind 33 auf unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer (UMA) zurückzuführen – ein Anteil von etwa 16 Prozent.
Der Krieg in der Ukraine scheint bei dem Anstieg eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Die Geflüchteten stammen überwiegend aus Syrien, Türkei, Albanien, Afghanistan und Guinea, teilt die Stadt mit, wobei syrische Geflüchtete den höchsten Anteil ausmachen.
IT.NRW hat von 2021 (2.490 Inobhutnahmen von UMAs) auf 2022 (6.529) einen landesweiten Anstieg um 162,2 Prozent festgestellt. Landkreise suchen deutschlandweit händeringend nach Unterbringungsplätzen für die Kinder und Jugendlichen.
„Auch die Situation in Dortmund stellt sich als belastend dar“, teilt Stadtsprecherin Kathrin Pinetzki schriftlich mit. „Es sind nicht ausreichend Plätze vorhanden.“
Das Dortmunder Jugendamt sei bemüht, die Plätze weiter auszubauen, weil die Zahlen weiter kontinuierlich stiegen.
Die Stadt hält manche Platzkontingente ausschließlich für unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer vor. „Wenn diese belegt sind, werden andere vorhandene stationäre Unterbringungen belegt“, erläutert Pinetzki. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 gab es im Jahr 2022 in ganz NRW 22,5 Prozent mehr Inobhutnahmen.
Martina Furlan sieht den Fachkräftemangel, mit dem auch die Träger der Jugendhilfe zu kämpfen haben, als einen Grund für die Situation. „Ohne Fachkräfte können sie keine stationären und ambulanten Plätze vorhalten. Wir sind in einer ziemlich dramatischen Situation.“ Für sie sei es deshalb schwierig, ihre Kapazitäten auszubauen, hat Furlan von Trägern erfahren, mit denen der Kinderschutzbund im Austausch steht.
Freie Plätze werden sofort belegt
Die Jugend- und Familienhilfe St. Bonifatius, die von der Caritas betrieben wird, hält insgesamt 14 UMA-Plätze vor. Sie teilen sich in Inobhutnahme-Plätze für eine kurzfristige Unterbringung und Clearing-Plätze auf. Das Clearing, in dem der Jugendhilfebedarf festgestellt werden soll, dauert laut Stadt in der Regel drei Monate. Danach werden die unbegleiteten Geflüchteten in Kinder- oder Jugendwohnheim untergebracht.
Alle 14 Plätze der Kinder- und Jugendhilfe seien seit Monaten belegt, sagt Leiter Daniel Spitz. „Insofern ist das keine neue Situation für uns.“ Seit eineinhalb Jahren sei dies schon so. Werden Plätze frei, werden diese sofort nachbelegt, sagt Spitz. „Wir bekommen auch Anfragen von anderen Städten und Kreisen, ob wir Kinder und Jugendliche aufnehmen.“ Allerdings nehme man nur UMAs auf, für die das Dortmunder Jugendamt zuständig sei.
In den Corona-Jahren 2020 und 2021 ist die Zahl der Inobhutnahmen in NRW deutlich gesunken – im Vergleich zu 2019 um 8,8 Prozent (2020) und 9,7 Prozent (2021).
Rechnet man die Inobhutnahmen von unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern heraus, sind die Maßnahmen aus anderen Gründen um 7,7 Prozent (2020), bzw. 14,8 Prozent (2021) gesunken. 2021 war damit der niedrigste Wert in den vergangenen zehn Jahren erreicht worden.
Diese Zahlen sind in 2022 wieder um 3,1 Prozent angestiegen. Im Vergleich zum letzten Vor-Corona-Jahr gab es aber 12,1 Prozent weniger Inobhutnahmen, die nicht auf die Aufnahme von UMAs zurückzuführen waren.
„Dramatische Rückgänge“
„Während der Lockdowns waren dramatisch Rückgänge bei Inobhutnahmen zu bemerken“, sagt auch Erik Bedarf vom Verband Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) und versucht eine Erklärung: „Der Kinderschutz-Radar ist in der Corona-Zeit kaputtgegangen. Kindergärten und Schulen waren geschlossen. Im Bereich der Kitas sind Kinder teils gar nicht mehr vor die Tür gekommen. Damit bleiben Fälle von Vernachlässigung unentdeckt.“
In der Schule falle normalerweise auf, wenn ein Kind nicht mehr kommen oder ständig Hunger haben. „Das ist im Lockdown weggefallen. Auch das Jugendamt hat den Kontakt zu Problemfamilien verloren“, sagt Bedarf. Aktuell merke man beim VSE aber einen „besonderen Druck“ auf die Inobhutnahmeplätze. „In unserer kleinen Schutzstelle mit vier Plätzen vergeht derzeit keine Woche, in der wir nur drei Jugendliche dahaben.“
Auch Gabi Polle, Einrichtungsleiterin des SOS-Kinderdorfes in Dortmund geht davon aus, dass nach dem Ende der Corona-Einschränkungen kindeswohlgefährdende Situationen wieder mehr erkannt werden. In der Einrichtung an der Kronprinzenstraße werden vor allem jüngere Kinder betreut. Unbegleitete Einreisen seien deshalb kein großes Thema für das SOS-Kinderdorf.
Gestiegene Herausforderungen
„Wir erleben seit 2021 verstärkt Unterbringungs-Anfragen von Kindern unterhalb des Grundschulalters“, beleuchtet Polle ein anderes Phänomen. Das liege ihrer Einschätzung nach auch an den gestiegenen Herausforderungen, mit denen sich insbesondere junge Familien in den letzten Monaten und Jahren konfrontiert sahen.
„Auf der einen Seite die Familie finanziell abzusichern und auf der anderen Seite einen guten erzieherischen Rahmen für die Kinder zu schaffen, ist mit den Auswirkungen durch die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die gestiegene Inflation sicher nicht einfacher geworden“, beobachtet Polle.
Familien würden zunehmend an ihre Grenzen geraten. „Auch die Tatsache, dass viele Kinder durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie viele Entwicklungsschritte nicht durchleben konnten, führt zu größeren Herausforderungen in den Familien und erschwert die Situation oft zusätzlich“, erklärt sich Polle einen Anstieg von Inobhutnahmen auch in Dortmund.
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