
© Uwe von Schirp
Nachbarn „treffen“ sich zum Gemeinschaftssingen auf ihren Balkonen (mit Video)
Coronavirus
Das ist echte Nachbarschaft mitten in der Corona-Krise. Jüngere kaufen für die Älteren ein. Regelmäßig kommen die Anwohner zum Singen auf die Balkone. Und sie denken schon an die Zeit danach.
Diese Straße lebt echte Nachbarschaft. Menschen aller Generationen leben im Stilkingweg. Als sich das Corona-Virus immer mehr verbreitete, haben die jungen Familien überlegt, wie sie ihren älteren Nachbarn helfen können. „Viele junge Frauen haben sich angeboten, für uns ältere Mitbewohner einzukaufen“, sagt Margret Mester.

Wer in den Wendehammer kommt, achtet auf die körperliche Distanz. Die soziale hebt das Singen auf. © Uwe von Schirp
„Es entstand plötzlich eine wunderbare Solidargemeinschaft. Man erkundigte sich nach dem gesundheitlichen Ergehen und man kam ins Gespräch.“ Das aber reichte den Senioren nicht. Viele leben schon seit 52 Jahren in den Bungalows und Reihenhäusern der Wohnstraße im Bodelschwingher Unterdorf. „Wir wollten aus Dank auch etwas zurückgeben“, sagt die Über-80-Jährige.
Singen in der Abenddämmerung
Seit dem 19. März kommen die Nachbarn darum an jedem zweiten Abend auf die Balkone, in ihre Gärten und in den Wendehammer des Stilkingwegs. Immer um 19.50 Uhr singen sie gemeinsam in der Abenddämmerung. 33 Anwohner sind es an diesem Sonntagabend (5. April).

Auch Familie Günther ist beim abendlichen Singen dabei. Vater Daniel bringt die Gitarre mit. © Uwe von Schirp
„Guten Abend miteinander“, grüßt Margret Mester mit kräftiger Stimme die Runde. „Wir beginnen heute mit dem Lied ‚Alle Vögel sind schon da‘.“ Eine Einfahrt weiter steht Familie Günther mit ihren beiden Kindern. Vater Daniel hat die Gitarre mitgebracht. Kraftvoll stimmt der gemischte Nachbarschaftschor ein.
Sie halten Blätter mit den Liedtexten in der Hand. Einige haben bereits einen Schnellhefter angelegt. Über die vergangenen Wochen ist ein kleines Liederheft entstanden. Gemeinsam legen die Bodelschwingher die Lieder fest. Die Texte finden sie im Internet, schreiben sie ab, drucken sie aus und verteilen sie.

Margret Mester gibt beim Singen den Ton an. Die Lieder suchen die Nachbarn des Stilkingwegs gemeinsam aus. © Uwe von Schirp
Eine Seniorin steht 40 Meter von Margret Mester entfernt auf ihrem Balkon. Auch Anwohner der Reihenhäuser in der Richterstraße singen mit. Mester dirigiert. Unten im Wendehammer achten die Paare und Familien auf den gebotenen Abstand. Es ist eine physische Distanz – keine soziale. „Auf diese Weise sehen wir uns wenigstens jeden zweiten Tag aus der Entfernung“, sagt Margret Mester.
Nach der Krise feiern sie ein Fest
Das letzte Lied an diesem Sonntagabend ist neu im Nachbarschaftskanon: „Möge die Straße“ – das irische Segenslied. Melodie und Text berühren. „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand...“ Die Stimmen klingen noch kräftiger als bei den vier Liedern zuvor. Sie machen Mut.

Paare, Familien und Einzelpersonen machen mit. Das Nachbarschafts-Singen kennt keine Generationen und schweißt zusammen. © Uwe von Schirp
Aufbruchstimmung. Dann winken alle in die weite Runde. Einige Senioren wechseln zwischen Straße und Balkon noch ein paar Sätze. „Das ist auch tagsüber so“, sagt Margret Mester. „Wir rücken mehr zusammen.“ Und sie haben ein Ziel: „Wenn Corona vorbei ist, machen wir ein Fest. Vielleicht hält manche Beziehung auch darüber hinaus.“
Geboren 1964. Dortmunder. Interessiert an Politik, Sport, Kultur, Lokalgeschichte. Nach Wanderjahren verwurzelt im Nordwesten. Schätzt die Menschen, ihre Geschichten und ihre klare Sprache. Erreichbar unter uwe.von-schirp@ruhrnachrichten.de.
