Wenn der Spruch „böses Erwachen“ im Leben des Steffen Kanitz jemals gepasst hat, dann am Morgen des 25. Septembers 2017: Der damalige Chef der Dortmunder CDU war am Abend zuvor mit der starken Hoffnung ins Bett gegangen, dass er, der seit 2013 im Bundestag saß, auch vier weitere Jahre in Berlin verbringen würde.
Bei der Bundestagswahl an diesem Tag hatte Kanitz zwar seinen Wahlkreis verloren, doch stand der damals 33-Jährige auf der Landesliste der NRW-CDU auf dem aussichtsreichen Platz 16, der bei vergangenen Wahlen ein sicheres Ticket nach Berlin bedeutet hatte.
Aber dann kristallisierte es sich zwischen drei und vier Uhr in der Früh heraus, dass das Zweitstimmenergebnis der CDU doch zu schlecht war für Kanitz‘ Listenplatz. „Der CDU-NRW-Generalsekretär schrieb mir in der Nacht eine SMS: ‚Mist, hat nicht gereicht‘“, erzählt Kanitz. „Ich bin mit einem echten Wahlkater aufgewacht. Es war ein Schock.“
Die Macht eines Politikers in einer Demokratie ist immer nur eine Macht auf Zeit - das bekommen bei jeder Wahl jene Abgeordneten zu spüren, die abgewählt werden. Bei der anstehenden Bundestagswahl am Sonntag könnte es in Dortmund die Inhaber der Direktmandate erwischen, die beiden SPD-Politiker Sabine Poschmann und Jens Peick.
Während mehrere Wahlforscher bei Poschmann immerhin einen leichten Vorsprung vor ihrem CDU-Konkurrenten Michael Depenbrock sehen, rechnen sie im Wahlkreis von Jens Peick mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und seiner christdemokratischen Herausforderin Sarah Beckhoff.

Würde Peick verlieren, wäre für den Vorsitzenden der Dortmunder SPD die politische Karriere im Bundestag fürs Erste vorbei - im Gegensatz zu Poschmann hat er nur einen chancenlosen Platz weit hinten auf der SPD-Landesliste.
Wie fühlt es sich an, nach der Wahl plötzlich ohne Mandat dazustehen? Wie geht es dann mit einem weiter? Fallen Ex-Abgeordnete weich oder hart? Wir haben darüber mit mehreren Vorgängern von Peick und Poschmann gesprochen.
„Da war nichts mit Rückkehroption“
Vier Jahre vor Kanitz traf auch Michael Kauch das Ende seiner Zeit im Bundestag völlig unvorbereitet. Der heutige Fraktionschef der FDP im Dortmunder Rat flog 2013 nach zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit raus. Eigentlich hatte er einen sicheren Listenplatz gehabt. Doch dann scheiterte die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde. „Ein Schockerlebnis“, so nennt Kauch es heute noch. Plötzlich war er seinen Job los.
Während der Abgeordnetenzeit ruhen die normalen Arbeitsverträge von Parlamentariern, es gilt ein Kündigungsschutz. Doch falls das Unternehmen, bei dem man angestellt war, in der Zwischenzeit aufhört zu existieren, man vorher selbstständig war oder direkt aus der Ausbildung oder dem Studium in den Bundestag eingezogen ist, hat man keine Absicherung.
Die hatte auch Michael Kauch nicht, wenn auch aus anderen Gründen. Als er 2003 für den bei einem Fallschirmsprung gestorbenen Jürgen Möllemann in den Bundestag nachgerückt war, hatte der damals 36-Jährige seinen Job als Geschäftsführer des Bundesverbands junger Unternehmer gekündigt: „Das war ein kleiner Verband mit 20 Mitarbeitern, da war nichts mit Rückkehroption.“
„Das Abgeordneten-Dasein ist kein Karriere-Booster“
Also ging der Diplom-Volkswirt Kauch auf Arbeitssuche, bewarb sich bei größeren Unternehmen. Doch das gestaltete sich schwierig. „Bei einer Bewerbung für eine Stabsstelle sagte mir der Vorstandsvorsitzende: ‚Das ist nichts für Sie, Sie waren zu lange Ihr eigener Chef.“ Er bekam die Stelle nicht. So gingen die Monate ins Land, ohne dass Kauch eine passende Anstellung fand.
„Das Abgeordneten-Dasein ist kein Karriere-Booster“, sagt sein ehemaliger CDU-Kollege Steffen Kanitz. „In der Wirtschaft werden Ex-Parlamentarier nicht mit Kusshand genommen, sondern eher mit der Kneifzange angefasst.“ Diesen Schluss lässt auch eine Studie der Personalberatung Kienbaum aus dem Jahr 2014 zu. Sie machte eine anonyme Umfrage unter den bei der Wahl 2013 aus dem Bundestag ausgeschiedenen Abgeordneten. Das Ergebnis: 15 Prozent von ihnen waren auch fünf Monate nach ihrem Bundestags-Aus noch arbeitslos.
Es gab im Bundestag schon mehrere weibliche Ex-Abgeordnete, die nach ihrer Zeit im Bundestag als Sekretärin im Büro von aktuellen Parlamentariern gearbeitet haben. Die SPD-Parlamentarierin Lilo Friedrich aus Mettmann ging nach ihrer Abwahl irgendwann putzen, weil sie keinen anderen Job fand. Kauch berichtet von einem jungen Bundestags-Kollegen, der nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ein neues Studium angefangen habe, um sich beruflich neu zu erfinden.
Üppiges Übergangsgeld
So schwer es für viele sein mag, nach ihrer Zeit im Bundestag wieder im Beruf Fuß zu fassen: Finanziell haben die Ex-Abgeordneten erst einmal keinen Druck. Dafür sorgt das „Übergangsgeld“, das allen aus dem Bundestag ausscheidenden Parlamentariern per Abgeordnetengesetz zusteht.
Ehemalige Abgeordnete bekommen so viele Monate ihre vollen Bezüge weiter ausgezahlt, wie sie zuvor Jahre im Parlament saßen - und das für maximal 18 Monate.
„Die Tätigkeit als Abgeordneter fällt oft in einen Lebensabschnitt, der bei anderen der Förderung der eigenen beruflichen Karriere dient“, schreibt der Bundestag auf seiner Internetseite über das Übergangsgeld. „Ein Abgeordneter verzichtet darauf, ohne zu wissen, ob er in der nächsten Wahlperiode überhaupt wieder gewählt wird.“ Das Übergangsgeld diene damit auch dazu, die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu sichern.
„Riesiges, überbordendes Privileg“
„Es ist ein riesiges, überbordendes Privileg“, sagt Marco Bülow über das Übergangsgeld. Der heute 53-jährige Dortmunder saß von 2002 bis 2021 im Bundestag, gewann fünfmal seinen Wahlkreis für die SPD, bevor er 2018 aus der Partei austrat. Bei der Wahl 2021 kandidierte er erneut für die Satirepartei „Die Partei“ und verlor wenig überraschend sehr deutlich gegen den neuen SPD-Kandidaten, Jens Peick.
Bei Bülows Ausscheiden aus dem Bundestag lag das Abgeordnetengehalt bei knapp 10.000 Euro - hochgerechnet bekam Bülow in den nächsten anderthalb Jahren also etwa 180.000 Euro, wobei ab dem zweiten Monat alle anderen Einkünfte auf das Übergangsgeld angerechnet wurden. „Das war sehr komfortabel“, sagt Bülow.
Immer noch 40-Stunden-Wochen
Es habe aber auch noch genug zu tun gegeben: Bülow musste sein politisches Leben als Abgeordneter abwickeln, zwei Büros auflösen, seine neun Mitarbeiter woanders unterbringen, die Berliner Wohnung loswerden. „Ich hatte zwar nicht mehr 60-Stunden-Wochen wie als Abgeordneter, arbeitete aber immer noch meine 40 Stunden pro Woche.“
Bülow machte sich selbstständig. Der gelernte Journalist schreibt heute Kolumnen für verschiedene Onlinemedien, hält Lesungen und Vorträge, berät Nichtregierungsorganisationen. Er macht Podcasts, jüngst veröffentlichte er ein Buch, in dem er den Lobbyismus in der Politik anprangerte - sein wichtigstes politisches Thema.
„Ich bin definitiv weich gefallen“
Über drei Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag sagt Bülow, dass er jetzt genug verdiene, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren - „aber nur knapp“. Sein Lebensstil sei dabei natürlich nicht mehr auf dem Niveau seiner Jahre als Bundestagsabgeordneter. Er habe seine ehemalige Mietswohnung im Dortmunder Westen gekauft, sie sei bereits abbezahlt.
„Auch jetzt kann ich es mir leisten, nicht sonderlich erfolgreich als Selbstständiger zu sein“, sagt Bülow. „Ich bin definitiv weich gefallen.“
„Spaß an der nuklearen Entsorgung“
Das gilt auch für die Ex-Abgeordneten Kauch und Kanitz. Kauch hat sich nach seiner mehrmonatigen Suchphase nach dem Ende seiner Zeit im Bundestag als beratender Volkswirt in der Medizinbranche selbstständig gemacht. Er berät heute Unternehmen unter anderem bei der Markteinführung neuer Behandlungsmethoden. Das habe zwar rund zwei Jahre Anlaufzeit benötigt, aber seitdem laufe das Geschäft gut, sagt er.
Steffen Kanitz war da schneller. Bei seiner Karriere nutze ihm durchaus die Erfahrung, die er im Bundestag gemacht hatte - als Mitglied der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“.
Weniger als drei Monate nach seiner Abwahl wurde er Generalbevollmächtigter der bundeseigenen Gesellschaft für Zwischenlagerung, 2018 wechselte er als Geschäftsführer zur Bundesgesellschaft für Endlagerung von radioaktiven Abfällen.
Seit 2023 ist er als Teil des Vorstands der RWE Power AG zuständig für das Ressort Kernkraft. Danach gefragt, warum er diesen Berufsweg eingeschlagen hat, sagt Kanitz den schönen Satz: „Ich habe über das Politische hinaus Spaß an der nuklearen Entsorgung gefunden.“
SPD-Abgeordnete haben Jobs, die auf sie warten
Auch um Dortmunds aktuelle SPD-Bundestagsabgeordnete muss man sich im Falle ihrer Abwahl keine beruflichen Sorgen machen. Sabine Poschmann würde zurück zu ihrem alten Arbeitgeber DEW21 gehen, wo sie vor ihrer Zeit in Berlin in der Strategieabteilung tätig war.
Und Jens Peick? Wäre dann wieder Beamter in der Dortmunder Stadtverwaltung, „wo das Personalmanagement sicher eine Aufgabe für mich finden würde“, sagt er wenige Tage vor der Wahl. Doch er hat andere Pläne: „Ich kämpfe dafür, dass das nicht passiert.“