Samstagvormittag auf dem Dortmunder Wochenmarkt Angepöbelt nach 20, angebettelt nach 30 Minuten

Auf dem Markt: Angepöbelt nach 20 Minuten, angebettelt nach 30 Minuten
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Dortmunds Markthändler sind in Sorge: Sie fürchten, dass die Kundschaft ausbleiben könnte, weil immer mehr Menschen sich am Hansaplatz durch aggressives Betteln - oft durch Drogenabhängige - gestört fühlen. „Wenn die Leute so dreist angebettelt werden, geht doch der Markt kaputt“, hatte ein Händler unserer Redaktion gesagt. Vor allem am Samstag sei es extrem. Denn dann suchten besonders viele Drogenabhängige die Zentrale „Wochenendvergabe“ hinter der Thier-Galerie auf - die Arztpraxen sind samstags geschlossen und hier wird der Heroin-Ersatzstoff L-Polamidon, besser bekannt als Methadon, ausgegeben.

Die Rechtslage: Aggressives Betteln ist in Dortmund untersagt und kann als Nötigung bewertet oder als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Auf dem Wochenmarkt gelten schärfere Bestimmungen: Dort ist es nach Paragraf 9, Absatz 3, Punkt c) der städtischen Marktsatzung unzulässig, „zu betteln oder zu hausieren oder sich in betrunkenem Zustand dort aufzuhalten“.

Regeln, an die sich in Dortmund nicht gehalten wird - mit guten Gründen: Stille Bettler werden geduldet, alkoholisierte Kunden toleriert. Unser Reporter hat an einem Samstagvormittag - also dann, wenn es vor der Öffnung der Drogenabgabestelle am schlimmsten sein soll - den Selbsttest gemacht.

Ein Bettler auf dem Hansamarkt entfernt sich Richtung Süden - er hat gerade um etwas Kleingeld gebeten.
Ein Bettler auf dem Hansamarkt entfernt sich Richtung Süden - er hat gerade um etwas Kleingeld gebeten. © Georg Thanscheidt

7 Uhr: Die Sonne lugt über die Marienkirche und den Sportscheck und taucht den südwestlichen Teil des Hansaplatzes in goldenes Licht. Lkw bringen Obst und Gemüse für die Stände. Metallene Transportboxen rattern übers Pflaster. Ich nehme auf einer der gerade erst erneuerten Bänke vor der Commerzbank Platz. Auf dem Pflaster vor mir liegt die aufgerissene Verpackung einer Einmal-Kanüle, von der Nadel ist nichts zu sehen.


7:14 Uhr: Eine Doppelstreife der Polizei quert den Platz. Sie redet mit den Händlern und orientiert sich dann Richtung Fischstand.

7:20 Uhr: Jetzt werden auch die Stände an der Ecke Hansastraße/Westenhellweg bestückt. „Einen Wunderschönen! Was darf's denn sein?“ begrüßt ein Händler seinen Stammkunden. Ich werde weniger nett begrüßt: „Was machst du denn hier, du Arschloch? Verpiss dich“, pöbelt mich ein dürrer, wankender Mittdreißiger von der anderen Straßenseite an. Kennen wir uns? Ich glaube nicht.

7:31 Uhr: Ein erster Anschnorr-Versuch: „Haben Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich?“, spricht mich ein großer dürrer Mann in einem viel zu warmen Wollpullover an. Über der Schulter trägt er einen Schlafsack. Ich habe mir vorgenommen, den ersten drei Bettlern an diesem Tag etwas zu geben und danach Nein zu sagen. Er bedankt sich artig und zieht Richtung Wall.

7:53 Uhr: Bei einem Espresso beobachte ich, wie sich der Markt weiter belebt. Bei Dasenbrock, wo es Fleisch aus artgerechter Tierhaltung gibt, bildet sich eine erste Schlange.

8:03 Uhr: Eine Frau im Rollstuhl quält sich übers Pflaster. Hinten an ihrem Gefährt hängt ein Rucksack, der vor Plastik-Pfandflaschen überquillt. Ihr Pullover ist verblichen, die Haare lassen sich kaum zu einem Pferdeschwanz bändigen. Ich habe sie abends schon häufiger in der Brauhausstraße gesehen, wo sie dankbar Kleingeldbeträge von Passanten entgegennahm. Sie stoppt bei der Premiumbäckerei Düwell, kramt lange in ihrem Portemonnaie, um sich ein Striezel zu gönnen. Dann ruckelt sie von dannen.

An der Wegkreuzung wartet dieser Bettler auf Marktkunden und spricht sie offensiv auf Geld an.
An der Wegkreuzung wartet dieser Bettler auf Marktkunden und spricht sie offensiv auf Geld an. © Georg Thanscheidt

8:15 Uhr: Eine Hochzeitgesellschaft - die Frauen in kurzen Sommerkleidern, die Herren noch die Sakkos überm Arm - schreitet und stolpert über die Kanten und Stufen Richtung Propsteihof. Ihr kommt eine Karate-Gruppe aus Magdeburg entgegen. Hier kreuzen sich die Linien bürgerlichen Lebens.

8:23 Uhr: Und hier kreuzen sich auch unterschiedliche Verständnisse vom Recht auf Rausch. Zwei junge Männer haben es sich neben Geflügel Evers in der Sonne mit einer Flasche aus der Winebox gemütlich gemacht. Ihrer Aussprache nach lassen sie eher die Nacht ausklingen, statt feuchtfröhlich in den Tag zu starten. Daneben, auf einer städtischen Bank, versucht ein ausgemergelter Mann im cremefarbenen halblangen Mantel ein offensichtliches Defizit mit einer Dose Carlsberg zu decken. Die drei unterhalten sich kurzzeitig gut, auf jeden Fall flüssig.

8:35 Uhr: Neben dem zentralen Parkhaus-Aufgang macht es sich ein weiterer Bettler auf einer roten Plastikwanne mit einem dicken Krimi und einem Kaffee-Becher für etwaige milde Gaben gemütlich. Die Frau hinterm Tresen der benachbarten Gulasch-Kanone grüßt freundlich - man kennt und schätzt sich offensichtlich.

8:43 Uhr: Ein Polizeiwagen fährt an der Westseite des Hansaplatzes Richtung Süden.

8:51 Uhr: Der Mann mit dem cremefarbenen Mantel steht jetzt vor Kaffee Witt. Den Kopf gesenkt dreht er kleine Kreise übers Pflaster. Zehn Minuten lang schaue ich ihm zu. Drei Mal gehen Marktkunden aktiv auf ihn zu und drücken ihm Münzen in die Hand.

9:05 Uhr: Jetzt gibt es Ärger. Ein weiterer wankender Mensch - diesmal mit Baseball-Cap und beiger Hose - drängt sich an dem Mann vor dem Kaffee-Stand vorbei. „Kannst du nicht sehen, dass hier schon jemand ist?“ zischt der dem Neuankömmling zu. Den kümmert das nicht. Er legt den Kopf leicht schief, hält Passanten seinen Kaffeebecher entgegen und fragt: „Haben Sie etwas Kleingeld?“ Eine Masche, die weniger Erfolg hat als die Demutsgeste seines Konkurrenten. Nach 15 Minuten legt er sich in die Hansastraße unter eine Laterne neben der Schleiferei schlafen.

9:25 Uhr: Jetzt sind auch der Nebeneingang zur Tiefgarage und einer der Ausgänge von Karstadt mit Bettlern belegt. Sie sitzen in der prallen Sonne und haben stumm einen Pappbecher vor sich gestellt. Etwa fünf halten sich an diesem Vormittag gleichzeitig auf dem Platz auf.

9:42 Uhr: Das ist dreist: Eine hagere Frau mit großen Ohr-Tunneln klappert alle Essens- und Trinken-Stände Richtung Propsteihof ab. Überall erntet sie ein - zum Teil resolutes - Nein. Das hindert sie aber nicht daran, fahrig und distanzlos auf Kunden zuzugehen. Als eine ältere Dame mit Rollator merkt, dass sie mit Höflichkeit nicht weiter kommt, schiebt sie einfach ihren Gehwagen zwischen sich und die Schnorrerin.

9:45 Uhr: Und dann kommt Patrick. Ich habe mir gerade ein Brot gekauft, als er mich anspricht. Er habe auch Hunger. Ob ich ihm einen Backfisch kaufen könne. „Ich habe mit dem Besitzer von Tevils Fischwerk geredet, er gibt ihn mir für 3,50 Euro statt für 5“, sagt er. Okay, Bettler Nummer 2. Der frühe Vogel fängt den Fisch. Er wünscht sich extra viel Remoulade. Patrick kommt aus Nürnberg, seit zwei Jahren lebt der junge Mann mit dem auffallend bunten Shirt in Dortmund auf der Straße. „Ich habe gerade mein Polamidon geschluckt, jetzt habe ich einen Mords-Hunger“, sagt er. Dann bittet er um zwei Euro für ein Vierbett-Zimmer im Hostel. Ich erfülle auch Wunsch Nummer 3 - obwohl ich glaube, dass das gesammelte Geld nicht in Nachtruhe investiert wird. Er drückt seine rotbraune Faust gegen meine und verschwindet.

Sind es viele, zu viele Bettler auf dem Markt? Nein. Nerven einige von ihnen? Ja, gewaltig. Kann ich als Wieder-Zugezogener nachvollziehen, warum Ersatz-Drogen in bester City-Lage abgegeben werden? Offen gestanden: Nein. Bin ich froh, dass ich als Journalist keine Alternativ-Standorte vorschlagen muss? Ja, durchaus.

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