
Ibtisam wird Dachdeckerin. Die 19-Jährige modelt für die neue Azubi-Kampagne der IHK. © Stephan Schuetze
Azubi-Mangel wird dramatisch – Jetzt werben Ibitsam (19) und drei andere für ihre Traumberufe
Neue Kampagne
Auf 100 freie Stellen kommen nur 40 Bewerber - Dortmunds Firmen müssen immer härter um Azubis kämpfen. Mit einer Kampagne wollen Handwerkskammer und IHK gegensteuern. Auch die Arbeitsagentur geht neue Wege.
Ibtisam ist eine zweifache Ausnahmeerscheinung. Zum einen absvoliert die 19-Jährige eine Ausbildung zur Dachdecker-Gesellin. Die junge Frau mit Realschulabschluss wird Fachkraft in einer Branche, die noch immer als Männerdomäne gilt. Dabei hat sie vor ihrem Ausbildungsstart 2021 einge Hindernisse überwinden müssen. „Ich gehöre nicht auf eine Baustelle, hat man mir gesagt“, erzählt sie. In einem anderen Betrieb habe sie zu hören bekommen, sie sei „ein Püppchen“.
Inzwischen kann sie darüber nur noch lachen. Mittlerweile ist „das Püppchen“ im zweiten Ausbildungsjahr, deckt Dächer ein, schweißt, installiert Photovoltaikanlagen und sorgt für Dachbegrünungen. Ihr Chef gehe sogar in Schulen, um für den Dachdecker-Beruf zu werben.
Zugleich ist Ibitsam auch Model. Ihr Konterfei ist ab sofort auf einem Bus von DSW21 zu sehen. Dort wirbt sie als Botschafterin „Tisa“, um bei jungen Menschen Appetit auf eine Berufsausbildung zu wecken.
Drei weitere Auszubildende tun es ihr gleich: Talia (22), die Glaserin wird; David (22), der eine Ausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen absolviert und Chiara (20), die auf dem Weg zur Medienkauffrau im Digiltal- und Printbereich ist. Ihre Gesichter, die neugierig machen sollen, sind auf insgesamt vier DSW21-Bussen und zwei Stadtbahnen in Dortmund zu sehen.
Handwerk wirbt mit Karriere- und Aufstiegschancen
Die Aktion, die ein Jahr lang läuft, ist ein weiterer Baustein der Dortmunder Handwerkskammer (HWK) und der Industrie- und Handelskammer (IHK) im Ringen um Nachwchskräfte. „Wir möchten deutlich machen, wie attraktiv die duale Berufsausbildung sein kann“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Stefan Schreiber mit Blick auf den Fachkräftemangel in vielen Branchen. Ins gleiche Horn stieß HWK-Geschäftsführerin Olesja Mouehli-Ort.
Ihre Botschaft: Es muss nicht immer ein Hochschulstudium sein. Auch eine Ausbildung im Handwerk, Industrie und Handel biete attraktive Aufstiegs- und Karrierechancen. „Gerade mit Blick auf Themen wie Digitalisierung, Klimaschutz und die Energie- und Mobilitätswende“, so Mouehli-Ort.

IHK-Hauptgeschäftsführer Stefan Schreiber (l.) mit den vier Azubis und Kampagnen-Models Ibtisam, Talia, Chiara (r.) und David. © Stephan Schuetze
„Was ich mache? Find’s heraus!“, locken die jungen Kampagnen-Models auf den Bussen und Stadtbahnen. Ansprechen wollen sie Jugendliche, die aktuell noch unentschlossen sind - und erst recht diejenigen, die 2023 die Schule verlassen. Die Antworten auf ihr geheimnisvolles Werben geben die Modells im Netz auf der Seite www.stabilezukunft.com, auf der sie in kurzen Videos erklären, warum sie sich für ihre Ausbildung entschieden haben, wie ihr Arbeitsalltag aussieht und welche Perspektiven sie für sich sehen.
„Auf 100 offene Stellen kommen 40 Bewerber“
Die Mangelverwaltung in Sachen Nachwuchskräfte ist nicht neu: Während Hochschulen starken Zulauf melden, müssen Handwerksbetriebe und andere Branchen um nahezu jeden Auszubildenden kämpfen. Zumal Corona die Lage noch einmal verschärft hatte.
Immerhin kann die Dortmunder HWK wieder einen leichten Aufwärtstrend vermelden: Bis zum 31.8. 2022 waren insgesamt 654 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, 10,5 Prozent mehr als 2021. Gleichzeitig aber siganlisieren die Zahlen immer noch 132 offene Ausbildungsstellen – und der Bedarf an Fachkräften wird noch steigen, prognostiziert das Handwerk.
Dabei sind nicht allein die Handwerksberufe betroffen. Der Mangel an Nachwuchskräften macht sich beinahe quer durch alle Branchen bemerkbar. Angefangen vom Hotel- und Gastrobereich über den Einzelhandel und die Pflege bis hin zur Logistik und vielen anderen Wirtschaftszweigen mehr: Den Betrieben gehen die Auszubildenden aus.
„Die Lage ist ernst“, stellt Sibylle Hünnemeyer von der Arbeitsagentur fest, ohne Dramatik verbreiten zu wollen: „Auf 100 offene Ausbildungsstellen kommen rund 40 Bewerber“.
Berufsberater kommen bald in die Thier-Galerie
Damit hat sich die Lage aus Sicht der Betriebe sogar noch verschärft. Zum Vergleich: Im August 2021 verzeichnete die Arbeitsagentur 930 offene Ausbildungsstellen bei 636 Bewerbern. Im Sommer 2022 waren es bereits 1255 Ausbildungsplätze bei nur noch 496 Bewerbern. Kein Wunder, dass Hünnemeyer sagt: „Es kommt auf jeden Einzelnen an, jeder abgeschlossene Ausbildungsvertrag ist ein Gewinn.“
Die Dortmunder Arbeitsagentur reagiert mit steigender Präsenz: Wie Hünnemeyer ankündigt, werden die Berufsberater ab Montag, 19. September, eine Dependance in der Thier-Galerie beziehen. Sie soll täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet und Anlaufstelle für alle Jugendlichen mit Ausbildungs-Ambitionen sein.
Chiara muss nicht mehr zur Berufsberatung. Die 20-Jährige, die bei der Ausbildungskampagne ebenfalls mitmacht, hat ihre Berufswahl längst getroffen: „Ich wollte schon immer im Medienbereich arbeiten“, erzählt die angehende Medienkauffrau. Die Branche sei zukunftsorientiert, böte täglich Abwechselung. „Und man kann sich immer wieder einbringen“, sagt Chiara. Sie will der Medienwirtschaft nach ihrer Ausbildung in jedem Fall treu bleiben.
Auch die junge Dachdeckerin Ibitsam macht sich bereits Gedanken über ihre Zukunft: Sei möchte sich nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Gesellin „in jedem Fall weiterbilden", wie sie sagt. Und vielleicht eines Tages sogar ihren Meisterbrief in der Hand halten.
Jahrgang 1961, Dortmunder. Nach dem Jura-Studium an der Bochumer Ruhr-Uni fliegender Wechsel in den Journalismus. Berichtet seit mehr als 20 Jahren über das Geschehen in Dortmunds Politik, Verwaltung und Kommunalwirtschaft.