
© Beate Dönnewald
Konvertierte Christen: „Hier fühlen wir uns zum ersten Mal gut aufgehoben“
Schwule und Geschiedene
Viele Katholiken treten aus ihrer Kirche aus. Die Missbrauchsskandale sind ein Grund dafür. Hier berichten konvertierte Christen, auch ehemals evangelische, wie und wo sie aufgefangen wurden.
In Nordrhein-Westfalen haben die Kirchenaustritte einen Rekord erreicht: 155.322 Menschen haben 2021 der Kirche den Rücken gekehrt. Das sind so viele wie noch nie in der bis 2011 zurückreichenden Statistik des Justizministeriums Düsseldorf. Der bisherige Höchstwert lag bei 120.188 Austritten im Jahr 2019.
Aus den Zahlen lässt sich nicht ablesen, wie sich die Austritte nach Konfessionen aufschlüsseln. Doch unbestritten ist: Die schweren Missbrauchsskandale in der römisch-katholischen Kirche haben Spuren hinterlassen.
Auch die geschiedene Dortmunderin Christine Gilbert (63), ihr zweiter Ehemann Christian Bochynek (75), ebenfalls geschieden, und Wolfgang Becker (70), der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt, haben die großen Kirchen hinter sich gelassen. Doch mit diesem Schritt allein war es für sie nicht getan. Sie haben Ersatz gesucht und gefunden. Alle drei konvertierten, um Mitglied in der Alt-Katholischen Kirche zu werden.
Alt-katholische Kirche erlebt kleinen Boom
Laut Robert Geßmann, seit vier Jahren Pfarrer der alt-katholischen Pfarrgemeinde St. Martin in Dortmund-Kley, erlebt sein Bistum aktuell einen kleinen Boom. „2021 gab es doppelt so viele Eintritte wie 2020. 400 Menschen sind bistumsweit dazugekommen.“
Die Zahl werde der eine oder andere möglicherweise belächeln: „Aber bei uns gibt es keine Austritte, sondern nur Eintritte“, betont Geßmann. Viele nähmen nur für die Eucharistiefeiern über einstündige Autofahrten auf sich. „Da muss die Überzeugung groß sein.“

Christine Gilbert und Christian Bochynek sind dankbar, dass sie als Geschiedene in der alt-katholischen Gemeinde getraut wurden und an der Kommunion teilnehmen dürfen. © Beate Dönnewald
Christian Bochynek ist eines dieser treuen Mitglieder. Ursprünglich gehörte der Lütgendortmunder der Römisch-Katholischen Kirche an. „Doch mit ihr war ich schon lange unzufrieden und immer auf der Suche. Ich lehne beispielsweise das Zölibat und die hierarchischen Strukturen ab“, erzählt der 75-Jährige.
Sein Schlüsselerlebnis in der alt-katholischen Gemeinde in Kley habe er 2018 gehabt, nachdem er nach dem ersten Gottesdienst direkt zum Kirchencafé eingeladen worden sei: „Dieses Gefühl, willkommen zu sein, hatte ich in keiner anderen Kirche.“
„Ich kam anonym und ich ging anonym“
Im Gegenteil: „Als ich 2015 nach Lütgendortmund kam, habe ich öfter Gottesdienste der römisch-katholischen Gemeinde mitgefeiert. Ich kam anonym und ich ging anonym.“ Die Beziehung zu St.-Martin-Gemeinde hingegen sei immer inniger geworden, sagt der 75-Jährige: „Hier habe ich erstmals das Gefühl, dass ich ein Zuhause gefunden habe, dass ich mich gut aufgehoben fühle.“ Die logische Konsequenz sei für ihn gewesen, zu konvertieren und Mitglied der Gemeinde zu werden.
Seine Frau Christine Gilbert ist schon vor über 30 Jahre aus einer Protesthaltung heraus aus der evangelischen Kirche ausgetreten. „Ich empfand die Kirche als träge, ich vermisste Gerechtigkeit und die Gleichbehandlung der Menschen.“ Ihre Suche nach einer anderen Gemeinschaft, mit der sie ihre christlichen Werte leben konnte, dauerte genauso lange. Erst 2020 konvertierte sie und wurde wie ihr Mann Mitglied der alt-katholischen St.-Martin-Pfarrgemeinde.
Geschiedene erhalten den kirchlichen Segen
Vieles begeistert sie hier: „Zum Beispiel, dass wir hier als Geschiedene heiraten durften, den kirchlichen Segen erhalten haben, und dass wir bei jeder Eucharistiefeier an der heiligen Kommunion teilnehmen dürfen.“
Sie habe es als belastend empfunden, dass sie als Geschiedene und Protestantin während der römisch-katholischen Gottesdienste, die sie früher mit ihrem heutigen Mann besuchte, auf der Bank sitzen bleiben musste. „Es ist ein schlimmes Gefühl, von dem, was einem wichtig ist, was einen trägt, ausgeschlossen zu werden.“

Pfarrer Robert Geßmann mit drei konvertierten Christen: Sein alt-katholisches Bistum erlebt aktuell einen Zulauf. © Beate Dönnewald
Diese Offenheit für alle Christen war es, die auch den schwulen Wolfgang Becker vor fast zehn Jahren gepackt hat. „Ich bin hier so freundlich aufgenommen worden, wie ich es vorher in meinem Leben noch nicht erlebt hatte.“ Das aber weder übergriffig noch missionarisch. Man werde nicht nur wahrgenommen, man werde wertgeschätzt, unabhängig von seiner Konfession oder sexuellen Neigung, so der ehemalige Protestant. 2013 folgte der Eintritt, seit 2014 engagiert sich der heute 70-Jährige im Kirchenvorstand.
Gemeindeversammlung entscheidet über alle Belange
Was alle drei außerdem an ihrer neuen Kirche schätzen: „Es wird nichts von oben beschlossen. Die Gemeindeversammlung entscheidet gemeinsam verbindlich über alle Belange der Pfarrgemeinde.“ Sogar der Kauf des Kleyer Gotteshauses vor fünf Jahren sei in der Gemeindeversammlung beschlossen worden, so Wolfgang Becker.
Die Konvertierten in der alt-katholischen Gemeinde begrüßen zudem, dass schwule Pfarrer und lesbische Pfarrerinnen im Amt und mit denselben Rechten ausgestattet sind wie ihre heterosexuellen Kollegen: „Es ist schrecklich, dass man das extra erwähnen muss“, so Wolfgang Becker. Für Christine Gilbert ist die alt-katholische Kirche einfach eine modern-katholische Kirche.
Krise auch für die kleine alt-katholische Kirche
Eines ist Pfarrer Robert Geßmann am Ende des Gesprächs wichtig: „Das, was gerade in der Römisch-Katholischen Kirche passiert, ist für uns als kleine Alt-Katholische Kirche genauso eine gewichtige Krise, die auch für uns langfristig Konsequenzen haben kann.“
Denn: „Wenn man sich im Mainstream von der Kirche abwendet, dann wird diese Haltung ,Ich kann mit der Kirche nicht mehr rechnen‘ auch die kleinen Kirchen treffen.“ Es sei deshalb wichtig, dass die Römisch-Katholische Kirche schnell wieder in einigermaßen gute Bahnen gelenkt werde.
Eucharistiefeier immer sonntags und donnerstags
- Die Alt-Katholische Kirche in Deutschland ist eine selbstständige katholische Kirche innerhalb der Utrechter Union der Altkatholischen Kirchen.
- Wie in Österreich und der Schweiz entstand sie aus Protest gegen die dogmatischen Definitionen, zum Beispiel päpstliche Unfehlbarkeit, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil am 18. Juli 1870 verkündet wurden.
- Ab 1872 kam es zur Gründung eigener Gemeinden und Ortskirchen.
- Das Katholische Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland umfasst derzeit rund 60 Gemeinden in nahezu allen Bundesländern. An etwa 60 weiteren Orten werden regelmäßig Gottesdienste gefeiert.
- Die Pfarrgemeinde St. Martin, Kleyer Weg 89, in Dortmund-Kley feiert immer sonntags um 10.45 Uhr und donnerstags um 19 Uhr miteinander Eucharistie. Weitere Aktivitäten/Angebote sind unter anderem der Familienkreis, der Männerkreis, der Martinstreff für Menschen mit Handicap oder das Team „Schöpfung bewahren.“
1968 geboren und seit über 20 Jahren Redakteurin bei Lensing Media. Zuständig für den Dortmunder Westen mit seinen Stadtbezirken Lütgendortmund, Mengede und Huckarde sowie für die Stadt Castrop-Rauxel.
