Als die Grenze durch Dortmund lief Vor 100 Jahren besetzten französische Truppen die Stadt

Als die Grenze durch Dortmund lief: Vor 100 Jahren besetzten französische Truppen die Stadt
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Sie kamen über Dorstfeld und die Rheinische Straße. Am Mittag hatten sie unter dem Kommando des Generals de Viry das Stadthaus an der Betenstraße erreicht. Am 16. Januar 1923, also vor genau 100 Jahren, zogen französische Truppen in Dortmund ein.

Der Einmarsch ins Ruhrgebiet hatte schon am 11. Januar in Essen und Gelsenkirchen begonnen. Mit der Besetzung der Industriestädte wollten die Franzosen Reparationsleistungen der Deutschen erzwingen. Sie waren Teil der Vereinbarungen des Versailler Vertrages, mit dem 1918 der Erste Weltkrieg beendet worden war

Kriegsverlierer Deutschland verpflichtete sich damals, jährlich 226 Milliarden Mark und 40 Millionen Tonnen Steinkohle an die Siegermächte – allen voran England, Frankreich und Belgien – Reparationen zu zahlen. Auch wenn die Summe später auf 132 Milliarden Mark reduziert wurde, war dies eine starke Belastung für die ohnehin noch unter den Folgen des Krieges leidende Wirtschaft in der neu entstandenen Weimarer Republik und damit auch für die noch junge Demokratie in Deutschland.

Ende 1922 war Deutschland dann auch mit den Zahlungen in Verzug geraten. Frankreich zog daraus die Konsequenzen und besetzte das Ruhrgebiet. Notfalls, so das Ziel, wollte man sich die Reparationsleistungen in Form von Kohle und anderen Wirtschaftsgütern selbst holen.

Nach Essen und Gelsenkirchen erreichten die französischen Truppen am 16. Januar auch Dortmund und das damals noch selbstständige Hörde. Am Dortmunder Stadthaus fuhr General de Viry mit dem Automobil vor, wie aus Berichten hervorgeht. Dort traf er auf Oberbürgermeister Eichhoff und Stadtbaurat Kullrich.

Empfang für Besatzer

Ganz unvorbereitet traf die Stadtspitze der Einmarsch der französischen Truppen nicht. In weiser Voraussicht hatte man in den Tagen zuvor bereits unter der Leitung von Kullrich ein Besatzungsamt eingerichtet. Es galt, Unterbringungsmöglichkeiten für die ungebetenen Gäste etwa in Schulen zu organisieren.

Die Stadtverwaltung war in einer schwierigen Lage. Es galt, Härten für die eigene Bevölkerung zu vermeiden, gleichzeitig aber wie in den anderen Ruhrgebietsstädten Widerstand gegen die Besetzung zu leisten. Eichhoff und Kullrich protestierten gegenüber de Viry dann auch formell gegen die Besetzung, mahnten aber zugleich die eigene Bevölkerung, besonnen zu reagieren.

Postkarten aus Dortmund mit französischer Beschriftung erinnern an die Besatzungszeit - hier mit einer Schule, die zum Quartier für Soldaten wurde.
Postkarten aus Dortmund mit französischer Beschriftung erinnern an die Besatzungszeit - hier mit einer Schule, die zum Quartier für Soldaten wurde. © Stadtarchiv Dortmund

Es begann der auch von der Reichsregierung ausgerufene passive Widerstand. Alle Geschäfte und Wirtshäuser blieben geschlossen. In Hörde verhängten viele Geschäftsleute ihre Schaufenster mit dunklem Stoff als Zeichen des Protests. „Die Eisenbahner, Post- und Telegrafenbeamten legten die Arbeit nieder beziehungsweise weigerten sich, den Befehlen der Besatzer nachzukommen“, berichtet die Historikerin Margrit Schulte-Beerbühl über den Alltag im besetzten Dortmund.

Verhaftungen und Ausweisungen

Die Besatzer begannen darauf schon bald mit den ersten Verhaftungen und Ausweisungen – angefangen mit den Leitern von Zollamt und Hauptzollamt bis zum Polizeipräsidenten und Präsidenten der Oberpostdirektion. Beide hatten sich geweigert, die Kasse und die Bücher ihrer Behörden herauszugeben. Bis Mitte Februar folgten der Reichsbankdirektor, der Oberbahnhofsvorsteher und auch Oberbürgermeister Eichhoff. Auch viele einfache Beamte wurden ausgewiesen, nur weil sie der verhängten Grußpflicht gegenüber den Besatzern nicht nachkamen. Die meisten wurden schlicht im unbesetzten Gebiet ausgesetzt.

Weit hatten es die Dortmunder dabei nicht. Denn Dortmund war zur Grenzstadt geworden. Das Ende des besetzten Gebietes verlief im Osten quer durch die Stadt, meist entlang von Bahnlinien. Die Franzosen sicherten die Grenze mit Stacheldrahtverhauen, Gräben und sogenannten „Spanischen Reitern“, also beweglichen Barrieren.

Plakate wurden zum Kommunikations- und Protestmittel gegen die französische Besatzung. Im Bestand des Westfälischen Wirtschaftsarchivs gibt es reichlich davon.
Plakate wurden zum Kommunikations- und Protestmittel gegen die französische Besatzung. Im Bestand des Westfälischen Wirtschaftsarchivs gibt es reichlich davon. © WWA

Es kam zu kuriosen Grenzziehungen. In Brackel etwa lag das Amtshaus außerhalb der besetzten Zone, der Großteil des Ortskerns aber innerhalb. Sogar manche Industrieflächen wie Phoenix in Hörde waren geteilt. In Asseln lag die Zeche Holstein im nicht besetzten Gebiet - mit der Folge, dass das Hüttenwerk Phoenix nicht mehr beliefert werden konnte.

Aufruf zum passiven Widerstand

Ohnehin wurde versucht, die Beschlagnahmung, etwa von Kohle, zu verhindern. Arbeiter und Unternehmen zogen hier an einem Strang, berichtet der Leiter des Westfälischen Wirtschaftsarchivs, Dr. Karl-Peter Ellerbrock. Bergarbeiter traten in den Streik oder versuchten, den Abtransport von Kohle und Koks zu verhindern, indem etwa Schienen blockiert oder sogar aufgerissen wurden.

Auch dieses Plakat rief zum passiven Widerstand im Bergbau auf.
Auch dieses Plakat rief zum passiven Widerstand im Bergbau auf. © WWA

Mit Erfolg: „Nach den Plänen der französischen Regierung sollten 25.000 Tonnen Koks ausgeführt werden, doch gelang es ihnen aufgrund des passiven Widerstands nicht, mehr als 4000 Tonnen zu liefern“, bilanziert Margrit Schulte-Beerbühl.

„Zwischen den Besatzungstruppen und der Bevölkerung entwickelte sich eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt“, berichtet die Historikerin. „Widerstand und Sabotageakte der Bevölkerung beantworteten die Besatzungstruppen mit Gegenmaßnahmen.“ Plakate und Flugblätter wurden zur Nachrichtenquelle. Denn die lokale Presse wurde zensiert und monatelang ganz verboten.

Tote bei „Bartholomäusnacht“

Ein trauriger Höhepunkt des Konflikts war in Dortmund die sogenannte „Bartholomäusnacht“ am 10. Juni 1923. Nach der Ermordung zweier französischer Soldaten im Klinikviertel verhängten die Franzosen eine Ausgangssperre, von der viele Dortmunder am Sonntagabend aber nicht rechtzeitig erfuhren. Trotzdem eröffneten französische Soldaten ohne Vorwarnung das Feuer auf heimkehrende Ausflügler.

Sieben Menschen starben. An sie erinnert heute ein Mahnmal im Westpark. Zur Bestattung der Toten auf dem damaligen Westfriedhof kamen 50.000 Dortmunder und selbst Reichspräsident Ebert kondolierte per Telegramm.

Die Franzosen verstärkten dagegen den Druck, riegelten Dortmund vom Umland komplett ab. Auch die Lebensmittelversorgung stockte, Grenzübertritte waren kaum noch möglich oder mit langen Wartezeiten verbunden. „An der Grenze gab es auch Todesopfer, zum Beispiel, wenn Dortmunder versuchten, Waren über die Grenze zu schmuggeln“, berichtet Schulte-Beerbühl. Wie hoch die Zahl der Todesopfer insgesamt war, sei aber nicht mehr festzustellen.

Galoppierende Inflation

Die Bevölkerung litt auf jeden Fall enorm unter Repressalien. Lebensmittel wurden knapp, weil die Lieferungen ausblieben. Teilweise wurden sogar Löhne beschlagnahmt - was dazu führte, dass Bergwerksunternehmen die Löhne an ihre Arbeiter unter Tage auszahlten. Die Preise stiegen ins Unermessliche. Es kam zur Hyperinflation. 30.000 Mark kostete ein Kilo Butter im Juni 1923. Später wurde sogar in Millionen und Milliarden gerechnet.

"Keinen Zentner" Kohle sollte die Franzosen bekommen war die Botschaft dieses Plakats.
"Keinen Zentner" Kohle sollte die Franzosen bekommen war die Botschaft dieses Plakats. © WWA

„Am 26. September 1923, als Deutschlands Währung vollkommen zerrüttet war und die Notendruckereien infolge der galoppierenden Inflation mit der Herstellung von Banknoten kaum mehr nachkamen, die Arbeitslosenzahl ins Unermessliche gestiegen und die Bevölkerung aufgrund der mangelnden Lebensmittelversorgung physisch am Ende war, gab Reichskanzler Gustav Stresemann die Aufgabe des passiven Widerstands bekannt“, berichtet der frühere Stadtarchiv-Direktor Dr. Günther Högl.

90 Prozent waren arbeitslos

Die Besetzung durch französische Truppen hielt allerdings noch mehr als ein Jahr an. Erst mit der Londoner Konferenz im August 1924 wurde der Weg für eine Neuordnung der Reparationen und den Rückzug der Franzosen geebnet. „Als die Franzosen am 22. Oktober 1924 Dortmund verließen, waren fast 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung arbeitslos und 78 Zechen im Oberbergamtsbezirk Dortmund stillgelegt“, bilanziert Högl.

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