Viele Teile Dortmunds rot wie die SPD, der wohlhabendere Süden CDU-schwarz, Kreuz- und Klinikviertel grün – in etlichen Stadtteilen von Dortmund war der Ausgang der Bundestagswahl 2025 keine große Überraschung. Selbst dass die AfD in Westerfilde oder Scharnhorst triumphierte, war schon bei der Europawahl vor einem Jahr so ähnlich vorgekommen.
Aber dieses Balkendiagramm für den Stadtbezirk Innenstadt-Nord, das am Wahlabend auch im Rathaus über viele Bildschirme lief, war außergewöhnlich. Dort lag plötzlich Die Linke weit vorne – früh am Abend schon, während des Auszählens der Stimmen, aber auch am Ende noch.
Nur SPD hält halbwegs mit
30,16 Prozent standen im vorläufigen Endergebnis – nur die SPD konnte mit ihren knapp 24 Prozent da noch halbwegs mithalten. Alle anderen bekamen nicht einmal halb so viele Stimmen wie Die Linke.
Die Grünen kamen auf rund 10,5 Prozent, die AfD auf fast 13, das BSW auf 6,6 – und die CDU landete bei 9,2. In diesem Bereich hatte Die Linke bei der Bundestagswahl 2021 auch noch gelegen. 13,06 Prozent waren es seinerzeit gewesen.
Kam der Erfolg aus dem Nichts? Nein.
Darin sind sich ein Sozialwissenschaftler, Die Linke selbst und die politischen Gegner am Tag nach der Wahl einig. Sie machen sechs Gründe aus.

1) Mapping - die gezielte Wähleranalyse
„Wir haben in der Nordstadt viele Gespräche an der Haustür geführt“, sagt Sonja Lemke. Die Sprecherin der Linken in Dortmund kandidierte in der Nordstadt auch direkt, über die Landesliste schaffte sie es auch in den Bundestag.
Man habe von den Sorgen und Nöten der Menschen erfahren, von steigenden Mieten und anderen Kosten, von der Angst vor Krieg und einem Rechtsruck in der Gesellschaft.
Dennoch ist Lemkes Satz nur die halbe Wahrheit, denn dass Die Linke ausgerechnet in der Nordstadt von Tür zu Tür ging, war volle Absicht. Und eine Anregung aus Berlin.
„Das war eine Strategie von der Bundesebene“, erklärt Lemke auf Nachfrage: Wo gibt es einerseits einen großen Anteil an Linken-Wählern - oder zumindest linken Wählern? Und wo lassen sich noch deutlich mehr Wähler mobilisieren als 2021?
Seinerzeit wie heute hatte die Innenstadt-Nord zwar die geringste Wahlbeteiligung in Dortmund. Aber: 2021 waren es 53 Prozent, jetzt 62 Prozent.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die zwölf Dortmunder Stadtbezirke mögen ähnlich viele Einwohner haben. So wenige Wahlberechtigte wie in der Nordstadt gibt aber nirgendwo sonst. In der Innenstadt-Ost etwa durften drei von vier Einwohnern wählen, in der Innenstadt-Nord nur rund jeder Dritte.
Ist die Wählerschaft in der Nordstadt also eine vergleichsweise homogene Gruppe? Vieles deutet darauf hin. Betrachtet man nicht die Prozente, sondern die absoluten Zahlen, wird deutlich: In Innenstadt-West und Innenstadt-Ost holte Die Linke mehr Stimmen als in der nördlichen Innenstadt. Selbst aus Hombruch kamen fast so viele Kreuze wie aus der Nordstadt.
Das Kreuz in der Nordstadt wirkt sich nur deutlich stärker auf die Prozentzahl aus. - weil eben viel weniger Menschen wählen (dürfen).
2) Viele junge Wähler
„In der Nordstadt leben relativ viele junge Leute, zum Beispiel viele Studierende – und Die Linke hat massiv gepunktet bei jungen Wählern.“ Das sagt Dierk Borstel, Politik-Experte, Sozialwissenschaftler und Professor an der FH Dortmund.
„Wir erleben gerade eine massive Polarisierung. Bei vielen Menschen verschwindet das Vertrauen in die Gestaltungskraft der Parteien der politischen Mitte.“ Bei Jung- und Erstwählern liegen Linke und AfD vorne - deutschlandweit wie in Dortmund. Außerdem: Wenn jemand jung ist und in einer Wohnung in der Nordstadt lebt, sind oft auch finanzielle Gründe ausschlaggebend.
„Im Dortmunder Norden leben viele Menschen, die von Armut getroffen sind“, sagt Linken-Sprecherin Lemke.
3) Opposition ist leichter
SPD und Grüne sind im Wahlkampf noch Regierungsparteien gewesen. Die Linke indes sei in ihren Forderungen frei von den Sachzwängen des Regierungsalltags gewesen, unterstreicht Dierk Borstel.
Auf den Wahlplakaten ging es unter anderem um Reiche, die viel Geld durch hohe Mieten machen. Um eine Umverteilung durch Steuern für Wohlhabendere. An den Haustürgesprächen tauchte aber auch ein ganz spezielles Thema auf.

4) Gaza und Israel
„Gaza spielt eine große Rolle“, sagt Sozialwissenschaftler Borstel. „In der Nordstadt kann man mit dem Israel-Palestina-Konflikt natürlich gut punkten“, pflichtet Jens Peick bei, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der SPD in Dortmund.
„Wir als SPD haben da eine sehr diffenzierte Haltung“, so Peick weiter: Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sei zu verurteilen. Natürlich habe man danach Israel beigestanden. Gleichzeitig „verstößt Netanjahus Kriegsführung gegen Völkerrecht“. Klarer formuliert: Die SPD schlägt sich nicht auf eine Seite, sagt, das könne sie doch gar nicht - dazu sei der Konflikt in Nahost zu komplex und lange andauernd.
Die Grünen mit der amtierenden Außenministerin Annalena Baerbock müssten ebenfalls diplomatisch sein, führt Dierk Borstel weiter aus. Die Linke hingegen stelle sich auf die Seite der Palästinenser - was bei vielen Menschen mit arabischen oder türkischen Wurzeln, aber deutschem Pass natürlich besser ankomme.
5) Social Media
Die Linke habe „einen hervorragenden Social-Media-Auftritt“ hingelegt, lobt selbst der politische Gegner, Jens Peick von der SPD. Von bundesweit knapp 5 auf 8,5 Prozent - diese Aufholjagd habe viel mit TikTok und Instagram zu tun, pflichtet Dierk Borstel bei.
Das Ansprechen gerade junger Wähler geschehe dort effektiv. Plus: Inhalte, die polarisieren, werden von den Algorithmen der Social-Media-Plattformen besonders häufig an Nutzer ausgespielt, denn sie erzeugen Emotionen.
6) Welt im Wandel
„Menschen merken, dass gewaltig etwas in Bewegung geraten ist“, analysiert Borstel, „auch viele Menschen, die vulnerabel sind, merken das.“ Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Donald Trump als US-Präsident, vielleicht eine Veränderung der gesamten Weltordnung der vergangenen Jahrzehnte - „immer, wenn es solch starke Brüche gibt, steigt das Verantwortungsgefühl.“
Die Menschen würden innerlich spüren: Ich muss etwas tun, irgendetwas. Das betreffe selbst diejenigen, die das Gefühl hätten: „Ich werde mitten im Strudel sein.“
Sprich: Viele bisherige Nichtwähler würden nun doch diejenigen wählen, von denen sie sich Hilfe erhoffen würden. Auch das zahle auf das Stimmenkonto der Linken ein.
Sonja Lemke ergänzt: „Viele migrantische Menschen machen sich Sorgen vor dem Rechtsruck.“ Dabei gehe es auch um die Frage: Wer soll denn alles herausgeworfen werden aus dem Land? Hier einmal mehr: SPD und Grüne sprachen sich zuletzt für mehr Abschiebungen aus - Die Linke nicht.
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