Ein 46-jähriger Mann wird leblos im Eingang einer Hilfeeinrichtung gefunden. Einen Tag später liegt ein 55-Jähriger tot unter einer Tischtennisplatte. Es sind zwei Fälle aus dem August des vergangenen Jahres, in denen der Tod von wohnungslosen Menschen mediale Aufmerksamkeit gefunden hat. Nur selten werden Todesfälle öffentlich.
Im Jahr 2022 sind in Dortmund, ganz offiziell, 29 wohnungslose Menschen gestorben. Das geht aus einer Statistik der Stadt hervor, die sie auf Anfrage mitteilt. Bei den Gestorbenen im Alter von 31 bis 79 Jahren handelt es sich bis auf eine 34-jährige Frau, die im Mai starb, ausschließlich um Männer. 17 der Toten hatten eine deutsche Staatsbürgerschaft, 12 eine andere Nationalität.
So weit, so offiziell - die wahre Zahl liegt aber wohl höher.
Davon geht der Verein Bodo, einer der freien Träger der Obdachlosenhilfe aus, der zuerst über die 29 Todesfälle berichtet hatte. „Denn in der Statistik der Stadt tauchen nur Menschen auf, die in Hilfesystemen registriert sind“, sagt Alexandra Gerhardt von Bodo.
Weitere Todesfälle fehlen in Statistik
In der Realität gebe es aber viele Graustufen von Obdachlosigkeit. Wie die Stadt mitteilt, handelt es sich bei den 29 Personen um Fälle, die dem Ordnungsamt als Sterbefälle „ohne festen Wohnsitz“ gemeldet worden sind und zu denen zunächst keine Angehörigen bekannt waren, die für die Beisetzung verantwortlich sind.
Gestorbene, die über eine aktuelle Meldeadresse verfügen, seien in der Liste hingegen nicht mit aufgeführt. „Ob vereinzelt Personen trotz Meldeadresse dennoch faktisch wohnungslos sind“, entziehe sich ihrer Kenntnis, teilt die Stadt mit. Das gilt beispielsweise für einen Mann, der Ende Dezember tot an der Möllerbücke aufgefunden war - ebenfalls ein Fall, der wegen der Prominenz des Ortes Aufmerksamkeit auf sich zog. Da er eine Meldeadresse hatte, fehlt er in der Liste.
Gebhardt nennt einen weiteren Todesfall eines bulgarischen Wohnungslosen, der nach einem Abgleich der Daten nicht unter den 29 Todesfällen zu finden ist.
Auch ein wohnungsloser 44-Jähriger, der am 19. Oktober nach einem Polizeieinsatz gestorben war, fehlt. Bei dem Einsatz in Dorstfeld, bei dem der Mann gewalttätig geworden war, hatten die Beamten einen Taser gegen ihn eingesetzt.
Ob er ursächlich durch das Elektroschock-Gerät gestorben war, konnte eine Obduktion nicht nachweisen. Bei dem Mann wurden Herzprobleme festgestellt, außerdem habe er unter Drogeneinfluss gestanden, hieß es damals von der Staatsanwaltschaft.
12 Tote aus Osteuropa
Bei der Durchsicht der Daten fällt auf, dass die 12 verstorbenen Menschen ohne deutschen Pass ausschließlich aus osteuropäischen Ländern stammen. EU-Migranten haben nicht automatisch einen Sozialhilfe-Anspruch in Deutschland.
Ausgeschlossen von den Hilfen ist zum Beispiel, wer in seinem Heimatland keinen Job hat und auch keine konkreten Aussichten auf Arbeit in Deutschland - sondern ausschließlich zur Jobsuche herkommt. Die Lebensbedingungen können für wohnungslose EU-Migranten dadurch noch schwieriger sein.
Laut einer vom Sozialministerium in Auftrag gegeben und im April 2022 veröffentlichten Studie zur Wohnungslosigkeit in NRW leben fast 900 Menschen in Dortmund auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Der Anteil der wohnungslosen Menschen mit ausländischem Pass liegt demnach bei bis zu 45 Prozent. Zu einem erheblichen Teil handele es sich um EU-Bürger aus Ost- und Mitteleuropa, die durch scheiternde Arbeitsmigration in Obdachlosigkeit geraten.
Wie und wo die Menschen gestorben sind, erhebt die Stadt nicht. Nähere Auskünfte zu 24 der 29 Todesfälle gibt die Polizei: So sind fünf der wohnungslosen Menschen „im Freien“ bzw. „öffentlichen Raum“ gestorben. Sechs sind letztlich im Klinikum gestorben, 13 weitere in Wohnungen. Auch wenn Menschen selbst keine Wohnung haben, kommen sie in einigen Fällen bei Bekannten oder Freunden unter.
Wie die Polizei mitteilt, sei die Differenz zu den Zahlen der Stadt damit zu erklären, dass durch die Polizei ausschließlich zunächst ungeklärte und nicht natürliche Todesarten bearbeitet werden. Manche Fälle sind demnach nicht auf dem Tisch der Kriminalpolizei gelandet.
Zwei Menschen sind erfroren
Die häufigste Todesursache waren laut Polizei mit 10 Fällen Vorerkrankungen. Drogen und Alkohol seien in 8 Fällen Grund für den Tod gewesen. Drei wohnungslose Menschen sind aus unklaren bzw. natürlichen Ursachen gestorben und zwei weitere an Unterkühlung. Jeweils einmal gibt die Polizei „Unfall“, „Ertrinken“ und „Suizid“ als Todesursache an. Wie die Behörde erklärt, seien insgesamt 26 Todesursachen genannt, da in manchen Fällen mehrere Ursachen zum Tod geführt hätten.
Wohnungslose haben oft mit diversen Krankheiten zu kämpfen. Bei der Studie zur Wohnungslosigkeit in NRW gab nur etwa ein Drittel der befragten Wohnungslosen an, gesund zu sein. 37,1 Prozent litten nach eigener Angabe an einer körperlichen Erkrankung, 29,8 Prozent an einer psychischen und 41 Prozent an einer Suchterkrankung. Mehrfach-Nennungen sind möglich gewesen.
„Bei wohnungslosen Menschen haben wir viel mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu tun und mit chronischen Erkrankungen, die sich verschärfen, wenn sie nicht behandelt werden“, sagt Alexandra Gerhardt von Bodo. Eigentlich müssten diese adäquat behandelt werden, oftmals fehlt aber der Zugang zum Gesundheitssystem.
Etwa 37 Prozent der in der GISS-Studie befragten wohnungslosen Menschen ohne Unterkunft gaben an, keine Krankenkassenkarte zu besitzen. Dabei ist der Zugang für deutsche Wohnungslose noch besser als für nicht deutsche.
Etwa 83 Prozent der Wohnungslosen mit deutscher Staatsangehörigkeit waren im Besitz einer Krankenkassenkarte. Bei nicht deutschen Wohnungslosen hatte nur etwa jeder zweite eine Krankenkassenkarte.
Probleme in der Gesundheitsversorgung
Aber selbst wenn Wohnungslose krankenversichert seien, bedeute das nicht, dass sie auch zum Arzt gehen, sagt Gerhardt. „Oftmals ist es für die Menschen eine große Hürde, in reguläre Arztpraxen zu gehen.“ Angst vor Stigmatisierung würde dabei eine große Rolle spielen. „Deshalb ist es wichtig, niedrigschwellige Angebotene zu ermöglichen“, sagt die Bodo-Mitarbeiterin.
Als Beispiel nennt sie die Praxis-Räume der ökumenischen Wohnungslosen-Initiative Gast-Haus an der Rheinischen Straße, in der sich Menschen in prekären Lebenslagen auch ohne Versichertenkarte behandeln lassen können. Eigentlich, findet Gerhardt, dürfe eine Versichertenkarte aber nirgendwo den Ausschlag geben. „Menschen in Not muss geholfen werden“, sagt Gebhardt.
Auf seiner Webseite bittet Bodo Passanten besonders bei Temperaturen um den Gefrierpunkt: „Wenn Sie Menschen sehen, die auf der Straße übernachten, schauen Sie nicht weg. Wenn Sie sich Sorgen machen, sprechen Sie die Person an. Wenn Sie denken, dass ein medizinischer Notfall vorliegt, wählen Sie die 112.“
Für einen weiteren Menschen in Dortmund ist aber bereits jede Hilfe zu spät gekommen. Im Jahr 2023 registriert die Stadt bislang einen Todesfall eines Menschen „ohne festen Wohnsitz“. Er starb am 21. Januar und wurde 47 Jahre alt.
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