
© Guido Bludau
Rote Finnstadt: Ein Haus-im Haus-System, das Neid und Neugierde weckt
Zeitlose Architektur
Die Rote Finnstadt in Dorsten ist besonders. Keine Wohnung gleicht der anderen. Menschen leben Tür an Tür und doch für sich. Dorstener werden um diese besondere Wohnkultur beneidet.
Angela Lamza und ihr Mann haben keinen Tag bereut, den sie in der Roten Finnstadt zugebracht haben: „Wir wohnen wie in einem Einfamilienhaus“, sagt die 75-jährige Dorstenerin.
Die Rote Finnstadt ist eines der architektonischen Wunderwerke, die seit den 1960er-Jahren im auf dem Reißbrett erschaffenen Ortsteil Wulfen-Barkenberg in Dorsten entstanden ist. Im Gegensatz zu anderen experimentellen Wohnformen im Ortsteil hat die Rote Finnstadt die Jahrzehnte seit ihrer Eröffnung 1976 überdauert.
„Weil hier bezahlbares, gemeinschaftliches Wohnen in einem schlüssigen Baukonzept ermöglicht worden ist“, kommentierte der Berliner Architekt Jan Kampshoff den Gebäudekomplex der finnischen Erbauer Toivo Korhonen und Lauri Sorainen bei einem Besuch in Barkenberg.
Finnische Architekten hatten feines Gespür für Wohnbedürfnisse
Die beiden Finnen hätten ein feines Gespür gehabt für die Bedürfnisse von Menschen, die in „Big Buildungs“ zusammenrücken und doch für sich allein sein möchten. Rote Finnstadt heißt der Gebäudekomplex deshalb, weil den unterschiedlich hohen Baukörpern ein behaglicher terrakotta-farbener Anstrich verliehen worden ist.

Glückliche Finnstadtbewohner: Jürgen Marzahn, Monika Limberg, Angela Lamza, Volker Skopp und Alex Skopp (von links, stehend) sowie Ursula Morbach und Petra Marzahn. © Claudia Engel
Die Rote Finnstadt strahlt Wärme aus. Ihre Bewohner strahlen sie auch aus. Neben Angela Lamza und vielen anderen stehen Jürgen und Petra Marzahn, Volker und Alex Skopp, Ursula Morbach und Monika Limberg für die eingeschworene Gemeinschaft der Finnstädter ein. Eingeschworen heißt nicht, dass Neuzugänge nicht willkommen sind.
Als Katharina Borowski mit ihrem Mann David und ihren Kindern Fynn-Luca und Marie-Jolie eines der begehrten Häuschen im Finnstadt-System 2016 ergattern konnten, wurden sie herzlich von den Eheleuten Marzahn empfangen und begrüßt: mit Brot und Salz zum Einzug und vielen freundlichen Worten.
Rote Finnstadt ermöglicht Gemeinsamkeit und Alleinsein
Das ist es, was die Rote Finnstadt mit ihrem harmonischen Baukörper, aber ihren vielen einzelnen „Bungalows“ auf verschiedenen Etagen bei ihren Eigentümern bewirkt. Wer allein sein möchte, sieht von seinem Balkon aus keine Menschenseele. Wer Gemeinschaft genießen möchte, hat sofort Kontakt. Im Innenhof, auf den Gemeinschaftsanlagen und im Hausflur.
Diese Baukunst, die die Menschen vereint und doch trennt, ist nicht nur in sozialer Hinsicht beispielhaft, sondern auch in architektonischer. 2018 wurde die Rote Finnstadt ausgezeichnet: Als „Big Beautiful Building“. 2018 war europäisches Kulturerbe-Jahr. Im Wettbewerb „Als die Zukunft gebaut wurde“ konnte sich die Rote Finnstadt hervortun.
Die Eigentümer schwören insbesondere auf die Veränderbarkeit der Räumlichkeiten. Keine Wohnung in den Gebäudekomplexen sieht wie die andere aus. „Wir konnten sogar nachträglich noch einen Fahrstuhl im Haupttreppenhaus einbauen lassen, weil die Architekten im Treppenhaus den Raum dafür gelassen haben“, sagt Angela Lamza. So sei sie nicht gezwungen, ihre Einkaufstaschen vier Etagen bis in ihre Wohnung zu schleppen.
Wer große Zimmer liebt, der scheut den Durchbruch nicht
Ursula Morbach hat zwei Durchbrüche in ihrer Wohnung machen lassen, weil sie gerne weitläufige Räume hat. Angela Lamza wohnt noch auf dem ursprünglichen Grundriss mit vielen Zimmern und einer Treppe ins Obergeschoss, in dem sich Schlafraum und ein Büro befinden. Die Eheleute Skopp haben den Gelsenkirchener Barock ihrer Vorgänger entfernen lassen und sich ein helles, luftiges Zuhause geschaffen.

Ursula Morbach ist Verwalterin der Finnstadtwohnungen - sie selbst hat sich im Obergeschoss häuslich niedergelassen. © Claudia Engel
Wer an der Roten Finnstadt vorbeikommt, möchte am liebsten reingehen. Ist den Bewohnern auch schon passiert, dass Wildfremde angeklingelt und um eine Wohnungsbesichtigung gebeten haben. Aus Neugierde und vom Wunsch getrieben, auch einmal so behaglich, komfortabel und inmitten einer freundlichen Nachbarschaft wohnen zu dürfen. Eine Wohnung zu bekommen, ist aber sehr schwer. Meist folgen Angehörige den Eigentümern nach.
Seit 20 Jahren als Lokalredakteurin in Dorsten tätig. Immer ein offenes Ohr für die Menschen in dieser Stadt, die nicht meine Geburtsstadt ist. Das ist Essen. Ehefrau, dreifache Mutter, zweifache Oma. Konfliktfähig und meinungsfreudig. Wichtige Kriterien für meine Arbeit als Lokalreporterin. Das kommt nicht immer gut an. Muss es auch nicht. Die Leser und ihre Anliegen sind mir wichtig.
