Tobias Seidel zurück in Dorsten Ein sanfter Rebell an der Orgel

Tobias Seidel zurück in Dorsten: Ein sanfter Rebell an der Orgel
Lesezeit

Die Marktmusik in St. Agatha ist immer gut besucht. 30 Minuten Orgelmusik am Samstagmorgen ist ein Erfolgsrezept, das Kantor Dr. Hans-Jakob Gerlings vor rund zwei Jahrzehnten ins Leben gerufen hat.

Zur 239. (!) Ausgabe am 12. Oktober fanden abgesehen vom treuen Stammpublikum ein paar mehr Menschen den Weg in die Kirche. An der großen Breil-Orgel hatte sich mit dem Kirchenmusiker Tobias Seidel ein vielen Dorstenern bekanntes Gesicht angekündigt, ein echtes „Kind“ der Lippestadt.

Jahrgang 1995, geboren auf der Hardt, Abitur am Petrinum, 2015 bis 2017 die C-Ausbildung an der Bischöflichen Kirchenmusikschule in Essen, 2017-2022 Studium der katholischen Kirchenmusik an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf mit dem Master-Abschluss, seit Anfang 2022 hauptamtlicher Seelsorgebereichsmusiker der Pfarrei St. Dionysius Köln -Longerich/Lindweiler – so die Fakten. Genauer hingeschaut ist der Weg von Tobias Seidel nicht so geradlinig wie es scheint.

„Bis zwölf war er normal“, sagt Mutter Doris lachend. Damit meint sie liebevoll, dass im Haus Seidel Klassik und Kirchenmusik nicht unbedingt prominent präsent waren. „Musik aber schon“, fällt ihr der Sohn ins Wort. Vater Lothar ist ein großer Fan von guter und lauter Rockmusik. „Dass Musik Freude bereiten kann, habe ich also früh gelernt.“

Tobias Seidel
Tobias Seidel leitet erfolgreich auch Chor-Orchester-Konzerte in seiner Kirche St. Dionysius in Köln. © privat

So probiert er sich ab besagtem Alter an Gesang, E-Gitarre und Klavier aus, wird neugierig auf die Orgel, die beim Sonntagsgottesdienst in St. Nikolaus erklingt. „Ich durfte mir dann immer den Schlüssel zur Kirche holen und die Orgel spielen.“

Musik in allen Facetten wird hauptsächlich autodidaktisch Hauptbestandteil des Alltags neben der Schule. Seidel schafft die Aufnahmeprüfung zum Studium der Kompositionslehre an der Folkwang Universität Essen, studiert, bleibt aber immer noch suchend.

Seidel hat eine schöne Tenor-Stimme, er tritt in die Chorgemeinschaft St. Agatha und den Kammerchor Cantus Dorsten von Hans-Jakob Gerlings ein. „Dann hat es eigentlich nur zwei oder drei Proben gebraucht, Hans-Jakob Gerlings bei der Arbeit zu erleben, einen direkten Blick auf den Beruf des Kirchenmusikers zu haben, da stand meine Entscheidung fest.“

Fünf Werke in 30 Minuten

Es folgte die C-Ausbildung, im Rahmen derer er wöchentlich Orgelunterricht bei Gerlings an der großen Breil-Orgel hatte. Nach dem Examen und mit Beginn des Studiums in Düsseldorf leitete er jahrelang den Kirchenchor St. Nikolaus, auch wenn er längst in Essen wohnte, gab die Leitung erst mit dem Umzug nach Köln aus logistischen Gründen ab.

Zur Marktmusik hatte Seidel für sein 30-minütiges Programm fünf Werke von Komponisten von 1593 bis 1750 mitgebracht. Alte Musik ist seine Präferenz, klar strukturiert, vom Bass denkend. „Und, sie findet abseits der großen Konzerthäuser statt“.

Der Kammerchor Cantus Dorsten 2018 im Xantener Dom
Der Kammerchor Cantus Dorsten 2018 im Xantener Dom. Tobias Seidel (5. v.r.) im Tenor. Chorleiter, Kantor Hans-Jakob Gerlings links, war zwei Jahre Seidels Orgellehrer während der C-Ausbildung an der Bischöflichen Kirchenmusikschule in Essen. © privat

Seidel mag keine Etiketten, keine Schubladen, kein großes gesellschaftliches Tamtam. „Ich bleibe immer ein bisschen ein Rebell“. Die Orgel zeigte er souverän in allen ihren Facetten, mysteriös, strahlend, aber auch filigran und zart. Die Werke von Francois Couperin und Joseph-Nicolas-Panerace Royer brachten meditative, sanfte Klänge, im Original für Cembalo geschrieben. „Alte Musik kann so modern klingen, würde Royer heute leben, hätte er die besten Gitarren-Riffs komponiert“, sagt Seidel schmunzelnd.

Zweiten Masterstudiengang begonnen

À propos Cembalo, das spielt Seidel ebenfalls, hat schon Opernprojekte der Hochschule Düsseldorf in Aufführungen begleitet. Weiterbilden, noch mehr Lernen, kein Stillstand, das sind seine Mottos. Seit diesem Monat hat er neben seinem Vollzeitjob einen zweiten Masterstudiengang im Fach Chorleitung begonnen. „Ich freue mich sehr, dass Tobias den Weg in die Kirchenmusik gefunden hat“, sagt sein erster Orgellehrer Hans-Jakob Gerlings, der ihn seit Jugendjahren kennt und die gesamte Entwicklung mitbekommen hat. „Er ist ein sehr sensibler Mensch geworden.“

Ein Erwachsenenchor mit rund 40 Mitgliedern in St. Dionysius, drei Gruppen Kinderchöre, liturgische Funktionen in vier Kirchen, Orgelpflege, Wartung, viele Dienstgespräche und Gremiumssitzungen, das neue Studium. Bleibt da Zeit für noch mehr? „Ich würde gerne ein solistisches Vokalensemble gründen“, sagt Seidel. „Nichts ist schöner und spannender als Vokalpolyphonie“. Es gibt noch ein paar weitere Hobbys wie Klettern, Sport und Kochen. „Aber Kochen ist auch wieder sinnlich, wie die Musik“.

Zum Thema

Marktmusik mit WDR-Männerchor

Bei der nächsten Marktmusik in St. Agatha präsentiert Kantor Dr. Hans-Jakob Gerlings nochmals etwas ganz Besonders. Am Donnerstag, 31. Oktober, ein anderer Wochentag als gewohnt, aber zur üblichen Uhrzeit 11.30 Uhr, singen zur „Marktmusik EXTRA“ die Männerstimmen des Rundfunkchores des WDR. Der Eintritt ist wie gehabt frei und die Kollekte fließt, wie schon die Kollekte des Konzertes von Tobias Seidel, in die Restaurierung der alten Breil-Orgel in der St. Agatha-Kirche.