Schülerinnen interviewen Bürgermeister zum Thema Heimat: „Würde nie woanders hingehen“
Interview
Für einen Wettbewerb haben Schülerinnen der Wulfener Montessori-Reformschule Bürgermeister Tobias Stockhoff zum Thema „Neuer Trend: Heimat“ interviewt: Wo Orte und Gefühle verschmelzen...

Auch das ist Heimat: Beim Jubiläumsumzug „1000 Jahre Lembeck“ schenkte Bürgermeister Tobias Stockhoff vor zwei Jahren als Kiepenkerl Hochprozentiges an die (erwachsenen) Zuschauer aus. © Guido Bludau
Schülerinnen und Schüler der Montessori-Reformschule haben sich an einem Wettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt. Das Thema lautete: „Neuer Trend: Heimt“. Wochenlang haben sich Lena Felsner, Pia Kwiatkowski, Kira Pöppelbaum, Hannah von Hören, Isabel Sievers und Lernbegleiterin Marion Taube immer wieder im Unterricht mit diesem Thema beschäftigt. Bürgermeister Tobias Stockhoff hat das Projekt als Gesprächspartner unterstützt. Redaktionsleiter Stefan Diebäcker hat mit den Schülern zwei Zeitungsseiten als Wettbewerbsbeitrag gestaltet. Das nachfolgende Interview ist Teil davon.
Generell, was ist für Sie Heimat?
Sich wohlfühlen.
Muss es ein Gefühl oder kann es auch ein Ort sein?
Ich glaube, wenn man Ort weiter definiert, dann verschmelzen Ort und Gefühl. Wenn Du auf Menschen triffst, die Du kennst und magst, dann kannst Du auch außerhalb von Dorsten ein Stück Heimat erleben. Dann begegnet Dir auch im Urlaub ein Stück Heimat – immer dann, wenn Du auf liebe Menschen triffst, egal an welchen Orten, indem du dich angenommen fühlst.
An welchem Ort fühlen Sie sich heimatlich, und muss es dort sein, wo Sie Bürgermeister sind?
Wer sich in der Stadt nicht wohlfühlen kann, in der er Bürgermeister ist, der wäre kein guter Bürgermeister. Wenn er sich mit seiner Stadt nicht identifizieren könnte, hätte er den falschen Job gewählt.
Also gibt es für Sie keine Alternative zu Dorsten?
Dorsten ist meine Heimat, ich fühle mich hier pudelwohl. Ich käme nie auf die Idee, woanders hinzugehen, weil ich hier Menschen kenne, Orte schätze, das eigene Zuhause ist, wo ich mich sehr wohlfühle und erholen kann: der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, in diesem Fall Wulfen, oder besonders schöne Stellen, wo man sich besonders wohlfühlt, bei Ausflügen mit dem Rad, auf Spaziergängen...
Vielleicht kennt Ihr auch das Gefühl: Der Urlaub ist zu Ende, aber man freut sich wieder richtig auf sein Zuhause, auf die Freunde, Familie, auf einen bestimmten Geruch, auf leckeres heimatliches Essen. Alles, womit man gute Erfahrungen verbindet.
Bei mir gibt es aber durchaus weitere besondere Orte: Südtirol zum Beispiel, wo ich schon häufig wandern war: Das ist eine Urlaubsheimat für mich. Oder die Partnerstädte Dorstens, da bin ich regelmäßig bei Gastfamilien untergebracht. Auch das ist ein Stück Heimat für mich geworden, ein Stück Heimat in der Welt.
Heimat wegen der Menschen in den Familien?
Ja natürlich. Für mich ist Heimat immer mit Menschen verbunden, sonst wäre es nur ein schöner Ort. Heimat ist aber immer das, wo es mit Menschen zu tun hat, dort, wo man ankommen kann und dort, wo man angenommen ist.
Können Menschen Heimat verändern, können sie Heimat auch zerstören?
Ja, auch das. Es gibt viele Beispiele aus der Geschichte, auch aus der aktuellen Zeitgeschichte. Meistens hat es mit Krieg zu tun. Zum Beispiel im Zuge des 2. Weltkrieges in Polen, wo Polen wie Deutsche vertrieben wurden, da haben Menschen zweimal ihre Heimat verloren. Aber Menschen können auch Heimat entstehen lassen, z.B. in Gastfamilien, die damals wie heute Menschen aufnehmen. Diese Menschen tragen dazu bei, dass ich Heimat auch in der Ferne erleben kann.
Ist es dann nicht gerade umso wichtiger, Menschen, die ihre Heimat verloren haben, eine schöne neue Heimat zu schaffen?
Das würde ich unterschreiben, wenn man sich selbst bewusst ist, wie wichtig angenommen und angekommen sein ist. Denn dann wirst Du Dir sehr genau überlegen, ob Du Menschen Heimat nimmst oder gibst. Man kann ja auch eine berufliche Heimat verlieren.
Vielleicht hast Du in einem Gebäude 30, 40 Jahre gelebt oder gearbeitet und es wird Dir genommen, abgerissen. Dann kann das ein harter Einschnitt sein. Es geschieht aber, dass etwas für immer aufgegeben werden muss, weil es keine Nachfolge gibt. Auch da nimmst Du Menschen ein Stück Heimat, damit muss man verantwortungsvoll umgehen.

Bürgermeister Tobias Stockhoff im Gespräch mit Schülerinnen der Montessori-Reformschule. © Isabel Sievers
Gibt es auch Menschen, die die Idee von Heimat gar nicht so genau verstehen, also was Heimat im Kern sein soll?
Jeder hat einen eigenen Zugang. Die Diskussion darüber aber ist durchaus wichtig, z.B. in der Flüchtlingsdiskussion, man hört oft: die Flüchtlinge, die kommen aus völlig anderen Kulturen, aus Afrika, aus Syrien, wie können die sich hier wohlfühlen? Aber keiner von denen hat seine Heimat gerne, sondern aus Not verlassen, und nur so, im darüber Miteinander nachdenken und darüber sprechen kann man Menschen besser verstehen, können wir uns alle besser verstehen, kann Heimat auch für die Flüchtlinge hier wachsen.
Sind Häuser und Denkmale Heimat?
Mir war sehr wichtig, dass wir den Dorstener Bahnhof erhalten und neu nutzen. Er steht dort seit 100 Jahren und ist ein wichtiger Zeitzeuge. Gebäude neu zu nutzen ist eine wichtige Aufgabe. Andersherum gibt es sicher Gebäude, die man für etwas Besseres abreißen kann und wo man neu bauen sollte.
Welche Gebäude sind das?
Ich finde z.B. unser aktuelles Rathaus nicht wirklich schön und einladend, aber es steht unter Denkmalschutz. Und vieles steht ja zurecht unter Denkmalschutz, weil es Erinnerungen birgt, sie sind bedeutsam für den Ort, sie erzählen Geschichte und prägen das Bild einer Stadt.
Konkret hat jeder ganz eigene Vorstellungen, manche würden sicher sagen, reißt die Mercaden ab, weil sie den Zugang zum Wasser verbauen, andere würden sagen, reißt diese oder jene Schule ab, und andere sagen eben, reißt dieses Rathaus hier endlich ab. Da gibt es immer für alles ganz individuelle Meinungen, für Erhalt oder Abriss. Und so gibt es eben auch zur Heimat welche, die sagen, das ist hier alles miefig und eng. Und andere sagen, das ist ja toll, dass hier alles so klar geregelt ist, das Traditionelle, die Schützenfeste, lasst das alles unbedingt so.
Es hängt von den Menschen ab?!
Genau!
Was ist das wichtigste Gebäude, bei dem Sie sagen, das ist Heimat, das muss bleiben!
Ich glaube, das Ensemble, das wir am Marktplatz haben, das alte Rathaus, die St. Agatha-Kirche und die umgebende Bebauung am Marktplatz, vielleicht nicht jedes Haus, aber die Struktur ist historistisch einmalig und aus der Vogelperspektive ist es wie ein gebauter Fußabdruck der Geschichte.
Kann auch ein Gegenstand Heimat sein, die Uhr vom Ururopa z.B., die man immer dabei hat?
Ja, so eine Taschenuhr kann natürlich ein „Stück“ Heimat. Man sagt ja oft, wenn man in der Ferne jemanden aus alten heimatlichen Tagen besucht und ihm etwas von daheim schenkt: Ich habe Dir ein Stück Heimat mitgebracht.
Ein guter Freund von mir bringt immer seinem Bruder, der in Süddeutschland lebt, eine Portion Grünkohl mit, also etwas, das typisch ist für die Heimat. Man löst damit positive Gefühle beim Gegenüber aus, Erinnerungen, die einem lieb sind.

Zwei Zeitungsseiten zum Thema „Neuer Trend: Heimat“ haben die Achtklässler der Montessori-Reformschule für den Wettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung gestaltet. © Stefan Diebäcker
Kann oder darf Heimat überhaupt negativ sein?
Alles ist Heimat und alles beeinflusst Dich, die Menschen und das Umfeld. Auch Trümmerlandschaften können Dich prägen, aber auch das muss nicht gleich negativ sein, es macht dich vielleicht auch kreativer im Spiel, stärkt dich später im Leben, weil Du mit Not leben gelernt hast. Heimat entzieht sich der Frage, ob sie schlecht oder gut sein kann, unsere Umgebung prägt uns so oder so.
Wir können uns aber immer fragen, wie wir mit Umständen umgehen, ob wir sie beeinflussen können oder ob wir uns beeinflussen lassen müssen. Heimat ist kein so leichter Begriff. Heimat-Tümelei kann benutzt werden, um Menschen von einer bestimmten Meinung zu überzeugen, was dann zu Nationalismus und auch zu Faschismus führen kann.
Benutzen Sie Heimat auch?
Als Politiker nutzt Du natürlich gute heimatliche Gefühle, wenn Menschen sich für ihre Stadt einsetzten, indem Du das wertschätzt. Auf meinem Wahlplakaten zur Kommunalwahl von 2014 in Dorsten habe ich bewusst für jeden Stadtteil mein Statement individuell gewählt: „Ihr Bürgermeister für Dorsten“, „Ihr Bürgermeister für Lembeck“, „Ihr Bürgermeister für Deuten“..., weil ich deutlich machen wollten, dass alle elf Stadtteile meine Stadt sind und damit meine Heimat. Daher ist aber in der Politik das kritische Hinterfragen so wichtig, warum macht jemand etwas, was bewegt ihn, man muss versuchen, die Emotionen und die sachlichen Beweggründe zu überprüfen.
Ein letzter Satz, den Sie bitte vervollständigen: Heimat ist für mich...
...ein Ort, an dem ich mich ehrlich angenommen fühle.