„Anders als Geschichtsunterricht“ Schüler des Berufskollegs in Dorsten werden Zeitzeugen

Schüler des Paul-Spiegel-Berufskollegs werden Zeitzeugen
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Das Paul-Spiegel-Berufskolleg bildet seine Schüler zu Zeitzeugen der Geschichte aus. „Wir kommen nicht mit Zahlen, Daten, Fakten – wir lernen über das Gefühl“, erklärt Romina Leiding vom Verein Zweitzeugen.

Bunte Karten liegen wild verstreut auf dem Boden eines Klassenraums, auf ihnen stehen Zitate wie: „Ich habe Angst, wenn nachts ein Auto vorbeifährt.“ Dann wacht sie um drei Uhr morgens auf und bekommt Angst.

Das Zitat ist eins von vielen – sie alle stammen von Holocaust-Überlebenden. Die Schüler lesen sich alle Karten durch und nehmen sich eine, die sie besonders berührt.

Wir haben die Geschichten von Zeitzeugen gehört, aufgenommen und damit gehen wir in die Klassenzimmer, erzählt Leiding. Niederschwellig und empathisch sollen sich die Schüler mit den Einzelschicksalen jüdischer Menschen zur NS-Zeit auseinandersetzen.

Mit Herz, Kopf und Hand

Der Verein arbeitet mit einem emotionalen Ansatz, um die jungen Menschen zu packen. „Wir haben diese drei Elemente, Herz, Kopf und Hand“, erzählt Leiding. „Was das Herz berührt, versteht der Kopf und die Hand kann handeln.“ Das Ziel? Aktiv gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Diskriminierungsformen werden – damit die Welt jeden Tag ein Stück besser wird.

In Heften wie diesen erzählen Zeitzeugen des Holocausts ihre Geschichte.
In Heften wie diesen erzählen Zeitzeugen des Holocausts ihre Geschichte. © Janina Preuß

Aber schon wieder Nationalsozialismus? Das sei eine Reaktion, die nicht selten von Jugendlichen kommt. Linda Thiemann ist Schülerin des Paul-Spiegel-Berufskollegs in Dorsten, hat bei den ersten Projekttagen mitgemacht und sieht das anders.

„Als wir im Ghetto ankamen, da stand noch das gefrorene Essen auf dem Tisch. Das haben wir aufgewärmt und gegessen.“ Es war das erste Essen, das sie nach der Zugfahrt gegessen haben. „Wir haben aber nicht gewusst, dass die, die das Essen haben stehen lassen, alle ermordet worden sind.“

Bildhaft und real erzählen Überlebende in kleinen Heftchen Geschichten, wie diese. Und genau diese Einzelschicksale seien es, die Linda, genau wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, besonders mitnehmen. „Das ist einfach anders als Geschichtsunterricht.“

Briefe an Holocaust-Überlebende

Auch Leon Vogel ist Schüler und Teil des Projektes und findet: „Ich kann mich durch die Schicksale der einzelnen Personen viel besser in das Thema hineinzuversetzen.“

In Workshops schreiben sie Briefe an Betroffene des Holocausts. Die Tochter einer Überlebenden hat nach dem Tod ihrer Mutter einen Schrank voller Schriftstücke gefunden, erzählt Leiding. Das habe ihr in der Trauer Kraft gegeben.

Das Paul-Spiegel-Berufskolleg ist die erste Kooperationsschule aus dem Kreis Recklinghausen. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt. Jedes Jahr nehmen zwei Klassen an zwei Projekttagen an den Workshops teil.