„L‘ chaim! Auf das Leben!“, heißt die neue Dauerausstellung, die am 16. Dezember im Jüdischen Museum Westfalen eröffnet wird. 1000 Jahre auf 300 Quadratmetern laden zur Entdeckungsreise ein.

Dorsten

, 17.11.2018, 05:50 Uhr / Lesedauer: 4 min

Museumsmitarbeiterin Antje Thul war shoppen in Jerusalem. Eingekauft hat sie einen Chanukka-Leuchter mit passenden Kerzen dazu, ein Hawdala-Set und viele Kippots, so heißt der Plural von Kippa - der jüdischen Kopfbedeckung - in perfektem Hebräisch. „Die gibt es nicht nur in dezentem Design, sondern auch kunterbunt und mit den unterschiedlichsten Motiven - vom Krümelmonster aus der Sesamstraße bis zu Emblemen deutscher Fußballbundesliga-Vereine“, sagt die pädagogische Mitarbeiterin des Jüdischen Museums und zieht zum Beweis aus ihrer Sammlung eine gelbe Kippa mit der schwarzen Aufschrift „BVB 09“ hervor: „Schalke 04 habe ich leider nicht gekriegt“, bedauert sie.

Krümelmonster, ACDC, Fußball, Ernie aus der Sesamstraße und BVB 09 - bei der Gestaltung moderner jüdischer Kopfbedeckungen sind Kreativität und Farben offensichtlich kaum Grenzen gesetzt.

Krümelmonster, ACDC, Fußball, Ernie aus der Sesamstraße und BVB 09 - bei der Gestaltung moderner jüdischer Kopfbedeckungen sind Kreativität und Farben offensichtlich kaum Grenzen gesetzt. © Anke Klapsing-Reich

Die modernen jüdischen Kultobjekte, die Antje Thul am Rande einer Bildungsreise in Israel erstanden hat, dürfen die Besucher des Jüdischen Museums Westfalen demnächst selber anfassen und aufsetzen. Denn sie gehören zu den anschaulichen Gegenständen, die auf einem großen spiralförmigen Tisch im Zentrum der neuen Dauerausstellung präsentiert werden und neugierig machen auf die jüdische Religion und Tradition: Wie das gebogene Widderhorn, Schofar genannt. Wer da hineinbläst, weiß, wie der „Weckruf für Israel“ am Neujahrsfest (Rosch Haschana) klingen muss.

Anfassen erwünscht: Das robuste Hawdala-Set und den Chanukka-Leuchter mit passenden Kerzen hat Antje Thul für den „Spiraltisch“ der neuen Ausstellung aus Jerusalem mitgebracht.

Anfassen erwünscht: Das robuste Hawdala-Set und den Chanukka-Leuchter mit passenden Kerzen hat Antje Thul für den „Spiraltisch“ der neuen Ausstellung aus Jerusalem mitgebracht. © Anke Klapsing-Reich

Geschichte(n) zum Anfassen auf 300 Quadratmetern im 1. Obergeschoss des Museums. Das macht Lust auf mehr. - Wenn sich der Besucher mit diesem Eindruck auf Entdeckungsreise durch 1000 Jahre begibt, dann ist ein wichtiges Ziel erreicht: „Die Ausstellung soll einladender, interaktiver, fröhlicher werden“, erklärt Museumsleiter Dr. Norbert Reichling. Der strenge pädagogische Zeigefinger bleibt in der Schublade.

Die bisherigen Ausstellungskapitel sind heutigen Sehgewohnheiten angepasst und reichen inhaltlich bis in die Gegenwart. Neue Kapitel beschäftigen sich zum Beispiel mit jüdischen Werten, hebräischer Schrift und Sprache oder Migrationsgeschichte.

Die Vielfalt des Judentums

Seit fast drei Jahren arbeitet das Museumsteam zusammen mit Projektleiterin Dr. Cordula Lissner an der Konzeption und Umsetzung der neuen Dauerausstellung. „Wir wurden oft gefragt: ,Warum braucht ihr denn eine neue, die alte ist doch noch gut’“, zitiert Reichling verwunderte Frager, denen er dann antwortet: „Eine 17 Jahre alte Präsentation muss doch überdacht und eben auch revidiert werden. Wir wissen mehr über die Dinge. Haben viel Neues aus der Region gesammelt. Über die Vielfalt des Judentums, über Migration und Integration. Das sind gute Anknüpfungspunkte für aktuelle Diskussionen über Rassismus, Antisemitismus, Demokratie und Zivilcourage in unserer heutigen Einwanderungsgesellschaft.“

Dieses Modell zeigt, wie die neue Dauerausstellung aussehen soll. Im Vordergrund der große Spiraltisch im größten, zentralen Raum.

Dieses Modell zeigt, wie die neue Dauerausstellung aussehen soll. Im Vordergrund der große Spiraltisch im größten, zentralen Raum. © Jüdisches Museum

Der knapp kalkulierte Finanzrahmen von rund 300.000 Euro - in der Hauptsache finanziert von der NRW-Stiftung, der RAG-Stiftung, der Anneliese-Brost-Stiftung, der Landeszentrale für politische Bildung, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem LWL-Museumsamt und einigen privaten Spendern - machte es schon früh erforderlich, sich von einigen Ideen zu verabschieden. „Und dass aus der geplanten Überarbeitung letztlich eine Neukonzeption wurde, die den ausgeguckten Wiedereröffnungstermin um ein gutes Jahr nach hinten verschob, war für uns ebenfalls ein schmerzlicher Lernprozess“, sagt Norbert Reichling.

Sich gedankenschwer in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückzuziehen, das war nicht das Ding der Reformer. „Wir haben von Anfang an unterschiedliche Nutzergruppen mit in den Prozess einbezogen“, unterstreicht Cordula Lissner. Bei der Bürgerwerkstatt kamen Dorstener mit ihren Wünschen zu Wort. Kinder und Studierende der Universität Münster äußerten in Workshops ihre Erwartungen. Architektur-Studierende der Universität Dortmund brachten ihre Vorstellungen in Modellen zum Ausdruck. Und Mitglieder der jüdischen Hochschulgruppe war die Präsentation der jüdischen Vielfalt ein besonderes Anliegen: „Ihr zeigt uns aber nicht immer nur als orthodox!“

Alexandra Khariakova ist die Vorsitzenden der liberalen jüdischen Gemeinde für den Kreis Unna. Ihr Lebensweg ist neu in die Ausstellung aufgenommen.

Alexandra Khariakova ist die Vorsitzenden der liberalen jüdischen Gemeinde für den Kreis Unna. Ihr Lebensweg ist neu in die Ausstellung aufgenommen. © Jüdisches Museum/Dirk Vogel

Nein, das tun sie nicht. So zieht beispielsweise Alexandra Khariakova, die derzeitige Vorsitzende der liberalen jüdischen Gemeinde für den Kreis Unna, in die neu zugeschnittene Abteilung „Jüdische Lebenswege in Westfalen“ ein. Und als Einwanderin aus der ehemaligen Sowjetunion steht sie auch für die gewaltige Integrationsleistung, die die damaligen, teils vom Aussterben bedrohten Gemeinden in Westfalen, gestemmt haben. Da wird es der mittelalterliche Leo von Münster sicherlich verzeihen, dass er für die „junge Dame“ aus Unna seinen bisherigen Platz in den „Lebenswegen“ räumen musste.

Biografischer Ansatz baut Brücken

Der biografische Ansatz baut Brücken zu den Besuchern. „Wir haben auch zwei Kinderbiografien aufgenommen“, sagt Cordula Lissner. Die von Margot Spielmann, dem jüdischen Mädchen aus Gelsenkirchen, das die Nazi-Zeit nicht überlebte und im Alter von 16 Jahren 1942 starb. Nach ihr ist auch der Jugendgeschichtspreis benannt, den das Jüdische Museum regelmäßig ausschreibt. Der Bottroper Junge Joseph Dortort hingegen überlebte als Einziger seiner jüdischen Familie und starb 2011 im Alter von 83 Jahren in London. „Wenn Schüler damit konfrontiert werden, dann sagen sie: ,Mensch, die waren ja so alt wie wir jetzt‘ - das schafft Anknüpfungspunkte zur eigenen Lebenswirklichkeit“, erklärt Cordula Lissner.

Der Weidenkorb mit dem Bottroper Bücherfund bleibt. Er ist für Dr. Cordula Lissner ein besonders geeignetes Exponat, um daran die Lebensgeschichten damaliger jüdischer Familien zu knüpfen und für junge Museumsbesucher nachvollziehbar zu machen. Hier ein Archivfoto aus der alten Dauerausstellung.

Der Weidenkorb mit dem Bottroper Bücherfund bleibt. Er ist für Dr. Cordula Lissner ein besonders geeignetes Exponat, um daran die Lebensgeschichten damaliger jüdischer Familien zu knüpfen und für junge Museumsbesucher nachvollziehbar zu machen. Hier ein Archivfoto aus der alten Dauerausstellung. © Anke Klapsing-Reich (A)

Große Porträts mit kurzen Erklärtexten an den Wänden geben den ausgewählten 16 Juden aus Westfalen ein Gesicht. Jeder Person ist ein Exponat zugewiesen, das auf die individuelle Geschichte verweist: Die Schreibmaschine gehört zu Jeanette Wolff aus Bocholt, der bedeutendsten deutsch-jüdischen Politikerin der Nachkriegszeit. „Die polnischen Nachtstücke“ zu Benno Elkan, in denen der Dortmunder Bildhauer Illustrationen und Texte hinterlassen hat. Auf einem großen Monitor können sich die Besucher - frei nach Wahl - ihre ausgewählte Biografie anschauen.

Interaktive Momente, kleine Spiele, Videos, Schubladen mit überraschendem Inhalt - „wir wollen keinen medialen Overkill“, betont Reichling, aber eine ansprechende, zeitgemäße Präsentation muss schon sein. Kurator Thomas Ridder freut sich auf die Neon-Leuchtschrift „Von hier“, unter der kleine biografische Spots an die Wand geworfen sind: „Dort trifft man den jüdischen Vorsitzenden von Schalke 04, die jüdische Freundin von Rosa Luxemburg aus Witten, jüdische Landwirte und Bergarbeiter aus Westfalen“, zählt er kleine, aber feine westfälische „Lebenstupfer“ auf.

Gute und schlechte Zeiten

„Gute Zeiten“ der Koexistenz zu zeigen ohne die Katastrophen und Brüche zu verschweigen - die Ansprüche an ein zeitgemäßes Museumskonzept sind oft widersprüchlich. Die Judenvernichtung solle nicht im Zentrum stehen, aber die Auseinandersetzung mit antijüdischen Gesetzen und Erlassen der Nazi-Zeit sei ein Bedürfnis der Besucher, kommentiert Reichling. „Eine traurige Station“, ergänzt Cordula Lissner und verweist auf die Schubladenelemente, in denen letzte Briefe von Kindern an ihre Eltern und umgekehrt furchtbare Schicksale schildern.

Die goldene Taschenuhr der Meppener Familie Silbermann

Die goldene Taschenuhr der Meppener Familie Silbermann © Jüdisches Museum

Auf der Suche nach Exponaten, Leihgaben und Dokumenten hat Cordula Lissner ganz Westfalen mitsamt seinen Gedenkstätten und Archiven bereist. Dabei hat die Historikerin unter anderem die goldene Taschenuhr der Meppener Familie Silbermann, die ins Exilland USA emigrierte, einen Tonteller aus der Matzenfabrik des Burgsteinfurter Juden Joseph Marcus und andere authentische Kostbarkeiten aufgespürt. Doch manchen Schatz hat sie auch in den Beständen der Museumssammlung selbst freigelegt.

Die letzten drei Wochen sind angezählt: Bis zur Eröffnung am 16. Dezember haben die Handwerker, das Museumsteam und die mit der Gestaltung beauftragte Essener Agentur „Verb“ noch alle Hände voll zu tun. Manches ist schon auf nächstes Jahr vertagt: „Der Umbau des Foyers, das speziell auf Westfalen ausgerichtet wird, soll folgen und frühestens ein Jahr später eröffnet werden“, bestätigt Reichling. Auch die inklusiven Maßnahmen, die blinden und sehbehinderten Menschen den Museumsbesuch erleichtern, stehen noch aus. Ebenso die Audioguides, die gibt´s erst später. „Wir freuen uns alle sehr“, fiebert Norbert Reichling mit dem gesamten Team der Eröffnung entgegen.