Litauer feiern Heiligabend mit Hostien und zwölf fleischlosen Gerichten

© Anke Klapsing-Reich

Litauer feiern Heiligabend mit Hostien und zwölf fleischlosen Gerichten

rnWeihnachtsbräuche

Vidas Vaitiekunas lebt seit 1999 in Deutschland, zurzeit in Dorsten als Pfarrer der St.-Agatha-Gemeinde. Er stammt aus Litauen und erzählt, wie in seiner Heimat Weihnachten gefeiert wird.

Dorsten

, 23.12.2018, 04:55 Uhr / Lesedauer: 3 min

Die großen rechteckigen Oblaten passen auf keine Christen-Zunge. „Müssen sie auch nicht, denn sie werden weitergereicht und jeder bricht für sich ein Stück davon ab.“ Pfarrer Vidas Vaitiekunas hat die ungewöhnlichen Hostien schon frühzeitig vor Weihnachten gesegnet und an seine Landsleute verteilt. Denn er ist nur mit 70 Prozent seiner Arbeitszeit für die Pfarrei St. Agatha tätig - die restlichen 30 Prozent widmet er sich als Seelsorger den in Deutschland lebenden katholischen Litauern. Und davon gibt es eine ganze Menge.

„Rund 30.000 katholische Litauer sind in Deutschland gemeldet. Doch die tatsächliche Zahl ist weitaus größer“, vermutet Vaitiekunas, der reichlich Kilometer zu seinen Einsätzen zurücklegt: zum Beispiel nach Hüttenfeld in Südhessen zum litauischen Gymnasium, der einzig anerkannten litauischen Schule in Westeuropa, in der 70 Litauer und 130 Deutsche bilingual unterricht werden. Oder zu seinen Landsleuten nach Düsseldorf, Duisburg, Oberhausen, Essen und natürlich Mülheim an der Ruhr, wo er jeden 3. Sonntag im Monat einen Gottesdienst in seiner Muttersprache abhält. Auch litauischen Häftlingen leiht er als Gefängnisseelsorger sein offenes Ohr.

Mit heiligen Motiven bedruckt und gesegnet

Die mit heiligen Motiven bedruckten großen Oblaten, die die Familie am Heiligen Abend miteinander teilt und mit guten Wünschen weiterreicht, sind nicht die einzige Besonderheit der litauischen Weihnacht: „Heiligabend ist in meiner Heimat etwas sehr Spezielles“, erzählt der Geistliche. Man versammle sich daheim zum gemeinsamen Mahl, das aus zwölf verschiedenen Speisen bestehe, die an die zwölf Apostel erinnerten.

„Es dürfen keine Fleisch- oder Milchspeisen sein“, betont Vaitiekunas. Die traditionelle „Kūčia“ besteht aus Brei und Heiligabend-Keksen. Ein Muss ist der Haferbrei mit gesüßtem Wasser. Die anderen Gerichte sind meist Rote-Bete-Suppe mit getrockneten Pilzen, Fisch (Hecht und Hering), Pilze sowie Äpfel und Nüsse. Der mit Heu bedeckte Tisch - symbolisch für die Geburt Jesu im Stall - wird mit einem weißen Leinentischtuch gedeckt. Zu Beginn des bescheidenen Heiligabend-Mahls wird die Hostie in der Runde herumgereicht. Danach soll jeder von allen Gerichten probieren. Der Fleischverzehr wird dann am 1. Weihnachtstag ausgiebig nachgeholt: Bei gekochtem Schweinskopf, Spanferkel oder Schinken lassen es sich die Litauer schmecken.

Diese gesegneten großen Hostien mit heiligen Motiven reichen die Litauer an Heiligabend in ihren Familien mit guten Wünschen um den Tisch. Jeder bricht sich ein Stückchen davon ab.

Diese gesegneten großen Hostien mit heiligen Motiven reichen die Litauer an Heiligabend in ihren Familien mit guten Wünschen um den Tisch. Jeder bricht sich ein Stückchen davon ab. © Anke Klapsing-Reich

Vidas Vaitiekunas wird Weihnachten bei befreundeten Familien verbringen. Wie meistert der 46-Jährige eigentlich den Spagat zwischen zwei Welten? „Gut“, antwortet er, „Deutschland ist mein Zuhause. Hier fühle ich mich wohl. Aber zuallererst bin ich ein Litauer“, antwortet Vaitiekunas. Als er in Kaunas geboren wurde und dort aufwuchs, war es für seine Familie nicht leicht, ihren katholischen Glauben zu leben. „Litauen gehörte zu dieser Zeit zur Sowjetunion, ist ja erst 1990 ein souveräner Staat geworden. Regelmäßige Kirchenbesuche waren damals nicht möglich. Auch die Grenzen waren dicht. Die einzige Fremdsprache, die wir lernten, war russisch. Wozu sollten wir auch eine andere lernen, wo wir doch nirgendwo hinreisen durften.“

Chance beim Schopf gepackt

Doch er sollte nach der politischen Wende 1990 seine Chance bekommen: „Ich hatte mein Studium an der theologischen Fakultät in Kaunas abgeschlossen und war 1995 zum Diakon geweiht, als mir die Möglichkeit eröffnet wurde, im Südoldenburgischen Vechta bei der Gemeinde und den Hilfsorganisationen Caritas und Malteser Hilfsdienst ein zweimonatiges Praktikum zu machen“, berichtet Vaitiekunas. Er griff sofort zu, auch als der für die Mission zuständige Prälat Eudenbach aus Bayern den jungen Diakon fragte: „Wollen Sie Deutsch lernen?“ So landete der Litauer später noch in Steppach bei Augsburg und paukte sich in einem Crash-Sprachkurs durch die deutsche Sprache und Grammatik.

Als einziger Deutsch sprechender „Exot“ im Priesterseminar war Vaitiekunas fortan in seiner Heimat ein gefragter Dolmetscher. Dass es ihn nicht wie die meisten seiner geistlichen Kollegen aus Litauen nach Rom zog - dort ist seit mehr als 40 Jahre ein litauisches Kolleg ansässig -, hatte auch mit seinen guten Deutschkenntnissen zu tun: „Mein Bischof sagte mir, er suche einen Deutsch sprechenden Priester, der die in Deutschland lebenden katholischen Litauer betreuen möchte. Ob ich Interesse hätte“, erinnert sich Vaitiekunas. Er sagte zu.

Pfarrer Vidas Vaitiekunas wohnt im Pfarrhaus der St.-Nikolaus-Gemeinde. Der Litauer fühlt sich in Dorsten wohl.

Pfarrer Vidas Vaitiekunas wohnt im Pfarrhaus der St.-Nikolaus-Gemeinde. Der Litauer fühlt sich in Dorsten wohl. © Anke Klapsing-Reich

Vidas Vaitiekunas fühlt sich wohl in Deutschland. Und ist froh, dass auch seine Heimat seit 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union und Mitglied der Nato ist: „Das ist für Litauen ein großes Glück“, meint der Pfarrer. In dem „falschen System der Sowjetunion“ sei so viel kaputt gemacht worden: „Ich kenne keinen Litauer, der den alten, kommunistischen Zeiten hinterher trauert.“

Eine Rückkehr ist ausgeschlossen

Wird er irgendwann in seine Heimat zurückkehren? „Diese Pläne habe ich nicht“, antwortet Vaitiekunas, „ich würde dort sicherlich Probleme bekommen, da Kirche in Litauen ganz anders organisiert ist.“

Nein, er bleibt in Deutschland. Auch, wenn er niemals ein Deutscher sein wird, denn eins ist für ihn unverrückbar: „Zuallererst bin ich ein Litauer.“