Norman Riedel sitzt in einem Besprechungsraum der St. Ursula-Realschule in Dorsten. Vor der Tür und auf dem Schulhof tobt der Pausenlärm. Der Lehrer hat sein Tablet vor sich liegen.
Mit ein paar schnellen Bewegungen öffnet der 39-Jährige eine App. ChatGPT erscheint auf dem Bildschirm - eine künstliche Intelligenz, mit der sich unter anderem Texte erstellen lassen. Seit ein paar Monaten ist KI nicht mehr aus dem Schulalltag wegzudenken.
Was ist ChatGPT?
Das Computermagazin „Chip“ beschreibt ChatGPT als „einen Chatbot, der mithilfe von künstlicher Intelligenz sehr menschenähnliche Konversationen in Textform erzeugen kann“. Nutzerinnen und Nutzer können beliebige Fragen stellen und erhalten von der KI Antworten. Diese stellt die KI aus unzähligen Quellen zusammen, darunter Datenbanken, Internetseiten und Bücher.
Im Oktober oder November 2022 sei er via Social Media das erste Mal auf ChatGPT gestoßen, berichtet Norman Riedel. Er habe ausprobiert, was die KI kann, habe sich erste Texte erstellen lassen. Schnell sei dem Lehrer klar gewesen: „Wer glaubt, dass Schülerinnen und Schüler die Möglichkeiten der KI nicht nutzen, ist naiv.“
Norman Riedel habe seine Schülerinnen und Schüler daraufhin im Deutschunterricht gefragt, wer für die Hausaufgaben ChatGPT benutzt hat. Einige der Jugendlichen hätten die Hände gehoben. Norman Riedel, der ebenfalls das Digital-Team der Realschule leitet, sagt: „Ob dieser Trend gut oder schlecht ist, ist erstmal egal. Er ist da.“
Ministerien bietet Schulen Orientierung im Umgang mit KI
Dementsprechend gehöre es zum Bildungsauftrag der Schulen, die Kinder und Jugendlichen mit dem kritischen Umgang sowie mit den Vor- und Nachteilen von künstlicher Intelligenz - zum Beispiel ChatGPT - vertraut zu machen. Herrmann Twittenhoff, Leiter der Gesamtschule Wulfen, zählt daher KI auch zu den Themen, die im Medienkompetenzrahmen NRW behandelt werden.
Dieser bietet über alle Schulformen hinweg Ideen und Orientierung, um Kinder und Jugendliche an und mit digitalen Medien weiterzubilden. Dazu gehören die sechs Bereiche „Bedienen und Anwenden“, „Informieren und Recherchieren“, „Kommunizieren und Kooperieren“, „Produzieren und Präsentieren“, „Analysieren und Reflektieren“ sowie „Problemlösen und Modellieren“.
Vom Schulministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt es zudem einen zwölfseitigen „Handlungsleitfaden für den Umgang mit textgenerierenden KI-Systemen“.
Lehrer binden KI im Unterricht ein
Doch was kann diese KI überhaupt? Auch da liefert das Computermagazin „Chip“ eine Übersicht. So kann ChatGPT Wissen zu einem bestimmten Thema zusammentragen. Beispielsweise zum Suchbegriff „Zweiter Weltkrieg“. Oder die KI kann anhand bestimmter Stichworte eine Kurzgeschichte erstellen.
Und genau diese Fähigkeit habe Norman Riedel bereits im Deutschunterricht einer achten Klasse der St. Ursula-Realschule genutzt. „Die Schülerinnen und Schüler haben mir Begriffe genannt, mit denen ich ChatGPT gefüttert habe, sodass die KI eine Kurzgeschichte erstellt hat. Die Geschichte haben wir dann auf die Merkmale von Kurzgeschichten geprüft, die wir vorher im Unterricht besprochen haben.“
Dieses Beispiel ist eines von vielen, bei denen die Schülerinnen und Schülern lernen sollen, die von der KI zusammengestellten Informationen zu hinterfragen. „Wir nehmen Texte der KI, um deren Inhalte zu reflektieren“, sagt auch Hermann Twittenhoff von der Gesamtschule Wulfen.
Es müsse überprüft werden, ob die Informationen überhaupt stimmen. Zwar würden die KIs besser, aber noch längst nicht alle von ChatGPT erstellten Texte seien inhaltlich richtig. Norman Riedel von der Realschule St. Ursula sieht das ähnlich. Er meint: „ChatGPT kann auch zur Verblödung beitragen“, wenn Informationen ungeprüft übernommen würden.
Art der Eigenleistung verändert sich
Eigenleistung, da ist sich Herrmann Twittenhoff von der Gesamtschule Wulfen sicher, ersetze die KI nicht nur deshalb nicht: „Die Anforderung führt zum Produkt.“ Er erklärt, was er damit meint: „Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, welche Informationen die KI benötigt.“
Man müsse sehr genau überlegen, welche Informationen und welche Fragen die KI benötige, um den gewünschten Text zu generieren. Denn, so Herrmann Twittenhoff: „Die KI führt exakt das aus, was man ihr sagt.“
KI stößt an mehrere Grenzen
Doch so gut die KI geeignet sei, um sich einen schnellen Überblick über ein Thema zu verschaffen, so schnell erreiche die KI von ChatGPT derzeit ihre Grenzen, sagt Norman Riedel. Der Realschullehrer sieht diese unter anderem in der fachwissenschaftlichen Tiefe.

Jan Gödde, stellvertretender Realschulleiter der Montessori-Reformschule, und Geschäftsführerin Eva Esser haben noch eine weitere Grenze ausgemacht. Die KI könne nämlich nicht den individuellen sprachlichen und inhaltlichen Stil in den Texten der Schülerinnen und Schüler kopieren.
Täuschungsversuch mittels KI aufgedeckt
An der Gesamtschule Wulfen sei eben diese KI-Eigenschaft einer Schülerin oder einem Schüler im März zum Verhängnis geworden, erzählt Schulleiter Herrmann Twittenhoff. Es sei eine Klausur aufgefallen, bei der im analytischen Teil augenscheinlich mit einer KI geschummelt worden war.
Herrmann Twittenhoff erklärt: „Wenn eine Schülerin oder ein Schüler einen Text liefert, der zu gut ist, fällt das auf.“ Der zweite Klausurteil, der ein kritisches Reflektieren der ersten Aufgabe beinhaltet hatte, sei dann wieder „im gewohnten Mittelmaß“ gewesen. Diese Beobachtung habe auf den Einsatz von KI hingedeutet.
Die Konsequenz: Smartphones, Smartwatches oder gar Smart-Glasses müssen vor einer Prüfung abgegeben werden. Zudem sollen bei Schülerinnen und Schüler mit langen Haaren die Ohren vollständig zu sehen sein, damit keine kabellosen Kopfhörer versteckt werden können.
Jan Gödde und Eva Esser von der Montessori-Reformschule sowie Norman Riedel von der Realschule St. Ursula sehen aktuell noch kein Problem darin, dass KI für Täuschungsversuche genutzt wird.
Schließlich seien digitale Endgeräte während Klausuren verboten, zumal die Kinder und Jugendlichen bei der Montessori-Reformschule ohnehin nicht mit Zensuren bewertet werden. Auch am Gymnasium St. Ursula sei noch kein Fall aufgefallen, bei dem mittels KI geschummelt worden sei, berichtet der stellvertretende Schulleiter Benedikt Wiescherhörster.
Prüfungsformen müssen angepasst werden
Er weist jedoch darauf hin, dass es Prüfungsformen gibt, bei denen der Einsatz von KI nicht so einfach ausgeschlossen werden kann. Benedikt Wiescherhörster weist auf die mehrseitigen Facharbeiten hin, die in der Qualifikationsphase 1, also ein Jahr vor dem Abitur, geschrieben werden.
Es sei fast unmöglich zu schauen, wer letztendlich den vorgelegten Text geschrieben hat. Das Schulministerium müsse sich dazu äußern.
Im Handlungsleitfaden des Landes ist lediglich erwähnt, dass die Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens gelten: „Sofern externe Hilfen verwendet werden, sind solche vollumfänglich kenntlich zu machen. Dies gilt auch für die Nutzung einer KI-Anwendung.“
Wissenschaftliches Arbeiten mit KI möglich
Genauso macht es Norman Riedel mit seinen Schülerinnen und Schülern an der Realschule St. Ursula. „Wenn sie ChatGPT nutzen, sollen sie die entsprechenden Stellen angeben, und erklären, warum es für sie in diesem Moment einen Mehrwert geboten hat.“
Dennoch hat Norman Riedel sein Unterrichtskonzept angepasst, unter anderem für Hausaufgaben: „Ich gebe keine Verschriftlichungen mehr auf. Textproduktion mache ich nur noch im Unterricht.“ Dementsprechend müssen die Aufgabenstellungen angepasst werden.
Lehrer müssen sich weiterbilden
KI ist also nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Lehrkräfte eine Herausforderung. Weiterbilden würden sich die Lehrerinnen und Lehrer an der St. Ursula-Realschule meist eigeninitiativ in kleinen Gruppen.
Benedikt Wiescherhörster kündigt an, dass es bald einen pädagogischen Tag zur KI am St. Ursula-Gymnasium geben soll, bei dem das Kollegium geschult werden soll. Denn auch für die Lehrkräfte kann KI eine Erleichterung sein. Zum Beispiel beim Erstellen von Unterrichtsmaterialien.
Verteufeln, da sind sich die Dorstener Lehrerinnen und Lehrer einig, wollen sie künstliche Intelligenz nicht. Sie sehen es stattdessen als eine gesellschaftliche Entwicklung, als ein Werkzeug, dass sich in allen Lebensbereichen etablieren wird. Ähnlich wie das Smartphone und Tablet, das vor Norman Riedel auf dem Tisch liegt.
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