Hertenerin berichtet über Haifa: Die israelische Bevölkerung zerbricht

Israel-Konflikt

Die Hertenerin Renate Tellgmann leidet mit, wenn in Israel die Granaten einschlagen. Ihre Freundin Silvi Behm lebt in Haifa. Sie ist erschüttert und sagt, in ihrer Heimat regiere die Angst.

Herten

, 14.05.2021, 19:30 Uhr / Lesedauer: 3 min
Ein Blick auf die israelische Hafenstadt Haifa.

Ein Blick auf die israelische Hafenstadt Haifa. © Renate Tellgmann

Die Israelin Silvi Behm lebt in der Hafenstadt Haifa. Sie weiß um die Regeln der an sich friedlichen Co-Existenz der so verschiedenen Religionen und Ethnien in ihrer Heimat und kann nicht fassen, dass im aktuellen Israel-Konflikt Nachbarn plötzlich zu Gegnern werden. „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass alles so zerbrechlich ist. Haifa ist doch ein Mosaik der israelischen Gesellschaft.“ Die Bevölkerung besteht aus Juden, Muslimen, Christen, Drusen, Achmadiah, Bahai und anderen Gruppen. Gerade hatte Silvi Behm wie alle Israelis gedacht, dass sie nun zum Ende der Corona-Pandemie wieder das Leben genießen können, zusammen feiern, sich am Strand treffen, in Cafés sitzen. Mit einem Schlag sind diese Hoffnungen dahin.

Das soziale Gefüge im Staat Israel verändert sich

Seit die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen hat, kommt es auch in Israel selbst zu Übergriffen und Gewalttaten zwischen jüdischen und muslimischen Bürgern des Staates. Silvi Behm sieht eine Veränderung des sozialen Gefüges. „Plötzlich sind Nachbarn misstrauisch, wenn sie sich im Supermarkt begegnen.“ Sie ist sehr traurig, dass das Vertrauen zueinander verloren geht.

Jüdische und muslimische Bürger greifen sich gegenseitig an

Ihre 93-jährige Mutter, die als junge Frau mit ihrer damals noch kleinen Familie aus Casablanca mit vielen anderen jüdischen Einwanderern nach Israel kam, kann die Welt nicht mehr verstehen. Für sie ist es schlimm, dass sie das in ihrem Alter mit ansehen muss. In Lod, einer arabisch-jüdischen Stadt südlich von Tel-Aviv, griffen sich die Bewohner gegenseitig an, als Reaktion darauf, dass Synagogen angezündet wurden. Die Polizei war so überrascht von dieser plötzlichen Gewalt, dass sie nicht überall eingreifen konnte, berichtet Silvi Behm. In Recklinghausens Partnerstadt Akko gingen ein Restaurant und ein Hotel in Flammen auf.

Blick auf die Bahai-Gärten und den Tempel.

Blick auf die Bahai-Gärten und den Tempel. © Renate Tellgmann

„Eine Nachbarschaft muss nun wieder ganz von vorne anfangen. Wir brauchen doch diese guten nachbarschaftlichen Beziehungen als Menschen. Jeder möchte sich in seiner Umgebung wohlfühlen und nicht ängstlich über die Schulter nach hinten schauen.“

Freundinnen fürs Leben (v.r.): Die Hertener Lehrerin Renate Tellgmann mit ihrer jüdischen Freundin Silvi Behm, die in der israelischen Hafenstadt Haifa lebt.

Freundinnen fürs Leben (v.r.): Die Hertener Lehrerin Renate Tellgmann mit ihrer jüdischen Freundin Silvi Behm, die in der israelischen Hafenstadt Haifa lebt. © Privat

Vor 36 Jahren kam Silvi Behm nach Deutschland und seitdem haben sich Renate Tellgmann und sie gegenseitig in ihre Familien aufgenommen. „Wir sind eng miteinander verbunden, wie man so sagt, in guten und in schlechten Zeiten. Ihre erste Station war zufällig Ibbenbüren, meine Heimatstadt“, erinnert sich die Hertener Lehrerin.

DIE AMTSSPRACHE ISRAELS

Iwrit ist die moderne hebräische Sprache, die in Israel zumeist gesprochen wird und alleinige Amtssprache ist. Geschrieben wird sie mit dem hebräischen Alphabet. Sie entstand durch geplante Weiterentwicklung und Ausbau des Alt- und Mittelhebräischen. Ihre Einführung ist der bisher einzige gelungene Versuch, eine Sakralsprache wiederzubeleben und zu einer modernen Standardsprache zu machen.

„Meine Iwrit-Lehrerin an der Uni in Münster kannte Silvi Behm und vermittelte den Kontakt, denn sie wusste, dass ich zwischen Studium und Referendariat viel Zeit in Israel verbracht und auch dort gearbeitet hatte. Der erste Telefonanruf machte uns fassungslos: Wir waren fast direkte Nachbarn und wurden sofort beste Freundinnen. Silvi kam ohne Deutschkenntnisse an und so halfen wir uns gegenseitig bei der Verbesserung der jeweiligen Sprachkenntnisse. Meine Eltern wurden Silvis ,Eltern‘ in einem ihr noch fremden Land“, erzählt Renate Tellgmann.

Hebräischunterricht in der jüdischen Gemeinde in Recklinghausen

Durch Zufall verschlug es die beiden jungen Frauen nach Recklinghausen. Silvi Behm ist sicher vielen Recklinghäusern noch bekannt: Sie erteilte Religions- und Hebräischunterricht in der jüdischen Gemeinde, gab Iwrit-Kurse im Jüdischen Museum in Dorsten, arbeitete für das Auslandsinstitut „Die Brücke“, unterstützte die inzwischen verstorbene Pnina Kaufman in der Israelstiftung, engagierte sich bei Veranstaltungen im Rahmen des Austausches mit der Partnerschaft mit Akko und in der Christlich-Jüdischen Gesellschaft. Mit ihrem Ehemann Igal und den zwei in Recklinghausen geborenen Töchtern kehrte sie nach einigen Jahren in ihre Heimat Israel zurück, doch ihr Kontakt nach Deutschland riss nie ab.

Das Rutenberg Institut

Das Rutenberg Institut ist ein Institut für Jugendbildung, eine Non-Profit-Einrichtung der Pinchas-Rutenberg-Stiftung. Die Deutsche Abteilung des Instituts plant, organisiert und führt (Jugend-)Austausche, Begegnungen von israelischen und deutschen Gruppen durch, empfängt und entsendet Delegationen und bietet in regelmäßigen Abständen mehrtägige Bildungsseminare für deutsche Volontäre, die in Israel arbeiten, an.

Seit Jahren leitet sie die deutsche Abteilung des Rutenberg Instituts in Haifa. Sie organisiert und begleitet Austauschprogramme von Schulen, führt Seminare für Journalisten durch und steht in ständigem Kontakt zu mehreren Organisationen in Deutschland und ermöglicht deutschen Jugendlichen, ein Jahr als Volontäre in Israel zu verbringen.

In diesem Jahr sind wegen der Corona-Pandemie nur 18 junge Deutsche durch Vermittlung des Rutenberg Instituts nach Israel gekommen. Gerade hat Silvi Behm einführende Seminare durchgeführt und ihnen durch Besuche in anderen Teilen Israels die Vielfalt des Landes gezeigt. „Ich sehe mich als Botschafterin, die schönen Seiten Israels zu zeigen, im Gegensatz zur oft nur negativen Berichterstattung“, sagt sie.

Im Hafen von Tel Aviv-Jaffa.

Im Hafen von Tel Aviv-Jaffa. © Renate Tellgmann

Toleranz zwischen Arabern und Juden fördern

Sie arbeitet intensiv mit dem arabisch-jüdischen Kulturzentrum „Beit HaGefen“ in Haifa zusammen. Es hat sich zum Ziel gesetzt, Araber und Juden zusammenzubringen und das Zusammenleben und die Toleranz zu fördern. Und nun wird durch die bestehende Situation alles wieder „zerbrechlich“.

Eltern haben panische Angst um ihre Kinder

Anstatt den Volontären dabei zu helfen, sich in Israel einzuleben, muss sie nun ununterbrochen mit besorgten Eltern telefonieren, die ihrer Meinung nach zu Recht panische Angst um ihre Kinder haben. Sie setzt sich mit den entsendenden Organisationen auseinander und sucht den Kontakt zur deutschen Botschaft.

„Die Araber gehören natürlich zum Staat Israel“

Silvi Behm hofft inständig, dass sich alle wieder auf ihre Menschlichkeit besinnen und sich nicht zu Geiseln einer Terrororganisation machen lassen. Eins ist für sie klar: „Wir müssen und werden immer zusammen weiterleben. Auch die Araber gehören natürlich zum Staat Israel. Nach 2000 Jahren Diaspora ist das wieder unsere Heimat, aus der uns niemand vertreiben kann.“

Renate Tellgmann und ihre Liebe zu Israel

Renate Tellgmann (62) unterrichtete 32 Jahre lang als Lehrerin an der Rosa-Parks-Gesamtschule. Zu Israel hat sie eine besondere Beziehung. Seit 1976 bereist sie das Land, beherrscht Hebräisch und pflegt Kontakte zu israelischen Freunden. Als junge Frau hat sie dort gejobbt: mal als Rezeptionistin im Hotel, mal als Kamel-Guide in Eilat.
Renate Tellgmann 1983 auf dem Rücken eines Kamels in Israel. In jungen Jahren arbeitete sie dort als Kamel-Guide.

Renate Tellgmann 1983 auf dem Rücken eines Kamels in Israel. In jungen Jahren arbeitete sie dort als Kamel-Guide. © privat

Der Israel-Konflikt bereitet ihr große Sorge. Sie steht in ständigem Austausch mit ihrer Freundin Silvi Behm. Beide nennen sich gegenseitig „Schwester in der Ferne“. Entsetzt ist Renate Tellgmann auch über die Vorfälle in Gelsenkirchen und anderswo. „Eigentlich müssten sich jetzt die aufrechten Muslime, vor allem Türken, dagegen wehren, dass ihre Flagge bei Angriffen auf eine Synagoge gezeigt wird“, findet sie.
Renate Tellgmann und ihr Ehemann Ian McLachlan 2017 in Israel bei bei einem Bar-Mitzwa-Fest.

Renate Tellgmann und ihr Ehemann Ian McLachlan 2017 in Israel bei bei einem Bar-Mitzwa-Fest. © privat