Dorstener sorgt sich um obdachlose Person Anonymer Brief erreicht Stadt - die erklärt das Problem

Sorge um obdachlose Person: Anonymer Brief erreicht Stadt
Lesezeit

Gut eine DIN-A4-Seite füllt das Schreiben, das „ein besorgter Bürger der Stadt Dorsten“ bereits am 28. November 2023 anonym an die Verwaltung und an diese Redaktion geschickt hat.

Der Verfasser schildert, dass seiner Familie eine verwahrloste Person mit auffälligem Verhalten ins Auge gefallen sei. Und er fordert die Stadt auf, dieser Person „notfalls auch gegen ihren Willen“ zu helfen.

Der Verfasser nennt zudem das Geschlecht, einen Namen sowie häufige Aufenthaltsorte der Person. Um den Menschen zu schützen, bleiben diese Informationen allerdings unveröffentlicht. Denn: Zuletzt hatte es vermehrt Übergriffe auf obdachlose Menschen gegeben, beispielsweise in Dortmund.

Sorge vor Übergriffen und Kältetod

Seinen Brief begründet der Verfasser unter anderem mit der Sorge, dass eben solche Übergriffe die von ihm beschriebene Person treffen könnten. Diese seien „in diesem ungeschützten Raum nicht auszuschließen“. Zudem fürchtet er, dass der obdachlose Mensch körperliche Schäden durch die Kälte davon trage oder den Winter schlimmstenfalls gar nicht überlebe.

Der „besorgte Bürger“ vermutet, dass die Person keine externe medizinische und soziale Hilfe annehmen möchte, diese aber sehr wohl benötige. In seinem Brief bittet er deshalb die Stadtverwaltung, sich dem Schicksal des obdachlosen Menschen anzunehmen, da dieser „anscheinend nicht mehr entscheiden kann, was gut und was schlecht“ für ihn sei. Notfalls solle dies auch gegen den Willen der Person geschehen, schreibt der Verfasser.

Doch die Stadt steckt in einer Zwickmühle, wie Pressesprecher Ludger Böhne ausführlich erklärt. Er bestätigt, dass es in Dorsten „aktuell zwei obdachlose Menschen“ gibt, „die trotz mehrfacher und regelmäßiger Ansprache durch das Ordnungsamt und das Sozialamt der Stadt Dorstener sowie zahlreicher Bürgerinnen und Bürger keinerlei Hilfen annehmen, keinen dauerhaften Platz in einer Unterkunft möchten und auch die Notschlafstellen nicht nutzen.“

Dorstens Pressesprecher Ludger Böhne erklärt, warum es für die Stadt nicht so einfach ist, obdachlosen Menschen „gegen ihren Willen“ zu helfen.
Dorstens Pressesprecher Ludger Böhne erklärt, warum es für die Stadt nicht so einfach ist, obdachlosen Menschen „gegen ihren Willen“ zu helfen. © Stadt Dorsten

Hilfe wird nicht angenommen

Städtische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie soziale Einrichtungen und ein Berufsbetreuer würden die beiden obdachlosen Personen immer wieder aufsuchen. Das Ergebnis der Gespräche sei jedoch immer gleich: Hilfe werde nicht gewünscht.

Zur Einordnung: Anfang Dezember 2023 waren 215 Menschen in städtischen Unterkünften in Dorsten untergebracht, so Böhne. „45 davon waren Asylbewerber im laufenden Verfahren und 170 galten als obdachlose Personen im Sinne der Statistik. Konkret:

  • ukrainische Staatsangehörige: 62 Personen,
  • Obdachlose im „klassischen Sinne“ (nach Zwangsräumung, junge Erwachsene, die zu Hause rausgeflogen sind, Ehepartner, die nach richterlicher Anordnung eine gemeinsame Wohnung verlassen müssen, etc.): 33 Personen,
  • Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis: 70 Personen,
  • Gäste in den Notschlafstellen: fünf Personen

Zurück zu der Person, um die sich der anonyme Briefschreiber sorgt. Ludger Böhne erklärt, dass sich die geschilderten Lebensumstände mit den Feststellungen der städtischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deckten.

Helfer können nur zusehen

Das Problem: Wenn Hilfe nicht angenommen wird, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozial- und Ordnungsamtes, die professionellen Betreuer und die Ehrenamtlichen nur zusehen. Denn, so Böhne: Es gelte die allgemeine Willens- und Handlungsfreiheit, verankert im Grundgesetz (Artikel 2, Absatz 1).

Dieses Prinzip gelte auch dann, schreibt Böhne, „wenn ein Mensch sich mit seinem Handeln selbst beeinträchtigt oder in eine abstrakte Gefahr begibt.“ Ein Verstoß gegen die Willens- und Handlungsfreiheit sei nicht nur „schlicht unzulässig“, sondern könne „sogar als strafbare Freiheitsberaubung gewertet werden“.

Eine rechtliche Möglichkeit gebe es aber dennoch, um Menschen sofort unterzubringen. Böhne bezieht sich auf das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG), das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (§ 14).

Abstrakte Gefahr reicht nicht aus

Aber: Das Gesetz fokussiere sich auf eine akute und konkrete Gefahr, „die Handeln genau in dem Moment erfordert, in dem diese Gefahr festgestellt wird“. Weiter schreibt Böhne: „Die abstrakte Gefahr, dass ein Mensch in der Kälte krank werden oder sogar erfrieren könnte, reicht demzufolge nicht aus, um sich über seinen Willen hinwegzusetzen.“

Zudem sei eine Einweisung auf Basis des Psychisch-Kranken-Gesetzes nicht nachhaltig. Schließlich müsse die betroffene Person wieder entlassen werden, sobald die Gefahr abgewendet ist. Eine langfristige Hilfe und Lösung sei dies also nicht. Böhne dazu: „Leider erliegen viele aus gutem Willen dem Denkfehler, dass eine Einweisung auch Verhaltensweisen ändert.“

Der Verwaltung sind also die Hände gebunden. „Dabei“, sagt Böhne, „ist es auch für uns als Stadt Dorsten unerträglich zuzusehen, wenn Menschen derart aus dem Leben fallen.“

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist erstmals am Mittwoch (3.1.) um 5.30 Uhr erschienen. Wegen verwaltungsinterner Abstimmung der von der Stadt Dorsten gelieferten Erklärungen ist dieser Artikel später gegen 9.30 Uhr vorübergehend offline genommen worden. Geringfügig verändert ist der Text nun um 17 Uhr abermals erschienen.

Ortstafel in Dorsten: Manfred Herlfterkamp (73) schmunzelt über Rückseite dieses Schildes

Mann verschanzt sich mit Messer: Großer Polizeieinsatz in Dorsten sorgt für Aufsehen

Nach Polit-Diskussion: Sohn gibt Papiere von Dorstens Ehrenbürger Schürholz ans Stadtarchiv