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Briefwahl oder App: Ist die klassische Wahlurne bald überflüssig?
Politiker sind skeptisch
Der Anteil der Briefwähler steigt seit Jahren kontinuierlich. Corona wird die Briefwahl vermutlich noch populärer machen. Kann man auf den klassischen Urnengang bald ganz verzichten?
Stellen Sie sich vor, es wäre Wahltag - und niemand müsste hin. Nicht ins Wahllokal, nicht an die Urne, allenfalls zum Briefkasten. Undenkbar für die einen, eine Super-Idee für die anderen.
DZ-Leser Heiner M. Leukel kennt sich beruflich mit Wahlen aus. In Gelsenkirchen war er als städtischer Beamter mehrfach in Wahlen eingebunden. Er befürwortet schon seit Jahren eine Änderung des Wahlsystems: „Es sollte nur noch per Briefwahl oder, falls technisch sicher, elektronisch via einer App gewählt werden. Die Wahl durch persönliches Erscheinen im Wahllokal ist antiquiert und nicht mehr zeitgemäß“, urteilt er.
Verschwendung von personellen und wirtschaftlichen Ressourcen?
Die Anmietung von Wahllokalen, Zahlung von Aufwandsentschädigungen und Erfrischungsgeldern und der Einsatz von Dienstkräften aus der Verwaltung stellen für ihn eine Vergeudung von personellen und wirtschaftlichen Ressourcen dar. Leukel geht sogar noch weiter: „Die Verwaltungsmitarbeiter müssen sich über Wochen vorher in das Wahlsystem und den Ablauf im Wahllokal einarbeiten und können so ihre originären Aufgaben im Sinne der Bürger nicht mehr ordnungsgemäß ausführen.“
Heiner Leukel könnte sich gut vorstellen, dass jeder Wahlberechtigte ohne Extra-Antrag mit der Wahlbenachrichtigung direkt die Briefwahlunterlagen zugeschickt bekommt. Dadurch würde die Hürde des Antrages auf Briefwahl entfallen.
Politikforscher befürworten Ausweitung der Briefwahl
Der Dorstener ist mit seiner Idee in durchaus prominenter Gesellschaft. Die Bertelsmann-Stiftung hat bereits 2016 in einem Forschungsprogramm Aspekte zur Steigerung der Attraktivität des Wahlsystems untersucht. Die Politikforscher haben herausgefunden, dass die in allen Ländern abnehmende Wahlbeteiligung vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sozial schwächer gestellte Wahlberechtigte den Urnen fernbleiben.
Deshalb macht die Bertelsmann-Stiftung der Politik Mut, die Briefwahl auszuweiten, um Politikinteresse und Wahlbeteiligung zu heben. Die Forscher halten sogar einen völligen Verzicht auf die Wahllokale für denkbar und prognostizieren eine Kostenersparnis bis zu 20 Prozent.
Unbeeinflusste Wahl nur in der Kabine möglich?
Soweit die Wissenschaftler. Nun zu den Politikern. Für Bürgermeister Tobias Stockhoff gehört es dazu, „dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht unmittelbar ausüben können, also am Wahltag, persönlich, in einem Wahllokal in ihrer Nähe.“ Der Gang zur Urne oder gar die Mithilfe als Wahlhelfer garantiere jedem Bürger, sich vom korrekten Ablauf im Wahllokal persönlich zu überzeugen.
Außerdem sei die Präsenzwahl die sicherste Stimmabgabe.

Tobias Stockhoff (CDU) und Jennifer Schug (SPD) kämpfen in diesem Jahr um das Bürgermeisteramt in Dorsten. © Leonie Sauerland
Stockhoff: „Wer will bei Briefwahl oder digitaler Abstimmung gewährleisten, dass tatsächlich der Wähler selbst sein Kreuz gemacht hat? Dass es im ,stillen Kämmerlein’ keine zwischenmenschliche Manipulation gegeben hat?“ Nur in der Wahlkabine sei der Wähler völlig unbeeinflusst, ist Stockhoff überzeugt.
Stockhoff: „Unerlässlicher Bestandteil der Demokratie“
Im Gegensatz zu Politikforscher Robert Vehrkamp, der die Behauptung, dass das Briefwahlsystem die unbeeinflusste persönliche Stimmabgabe infrage stelle, für kaum begründbar hält. Skeptiker argumentieren zum Beispiel mit dem autoritären Ehemann, der den Briefwahlzettel seiner Frau an ihrer statt ausfüllt. Denen hält Vehrkamp entgegen: „Man kann ja auch bei der Urnenwahl nicht ausschließen, dass der eine Ehepartner dem anderen sagt, was er oder sie wählen soll – und er oder sie tut das dann in der Wahlzelle.“
Coronakrise, Urlaub, Krankheit, andere Verpflichtungen: Für Tobias Stockhoff gute Gründe für die Briefwahl. Aber der Gang zur Urne bleibt für ihn ein unerlässlicher Bestandteil der Demokratie.
Wahlkampf in Corona-Zeiten
Benachteiligt die Krise die weniger bekannten Herausforderer?- Die nächste Wahl findet am 13. September 2020 statt, wenn in Dorsten Tobias Stockhoff und Jennifer Schug als Spitzenkandidiaten von CDU und SPD bei der Kommunalwahl um das Bürgermeisteramt ringen.
- Einen klassischen Straßenwahlkampf dürfte es bis dahin wohl kaum geben.
- Mit einem erhöhten Briefwahl-Aufkommen wird zu rechnen sein.
- Stimmabgabe ganz ohne Wahllokale ist für beide Kandidaten nicht vorstellbar.
Geboren und geblieben im Pott, seit 1982 in verschiedenen Redaktionen des Medienhauses Lensing tätig. Interessiert an Menschen und allem, was sie anstellen, denken und sagen.
