Bibi darf das Krankenhaus bald verlassen

Mädchen aus Afghanistan muss Laufen neu lernen

Über fünf Monate schon ist die siebenjährige Bibi im St.-Rochus-Krankenhaus in Castrop-Rauxel. In Afghanistan wurde sie bei einer Granatenexplosion schwer am Bein verletzt. Auch wenn sie noch viele kleine Schritte zu meistern hat, macht Bibi jeden Tag Fortschritte.

Castrop-Rauxel

, 06.06.2018, 15:21 Uhr / Lesedauer: 3 min
Zusammen mit Arzt Pascal Kirchhoff kann die siebenjährige Bibi schon wieder einige Schritte laufen.

Zusammen mit Arzt Pascal Kirchhoff kann die siebenjährige Bibi schon wieder einige Schritte laufen. © Matthias Stachelhaus

Mirwais Karsai bringt es auf den Punkt: „Was die Ärzte hier geschafft haben, ist schon sehr beeidruckend“, sagt er zu dem, was er in den vergangenen Monaten im St.-Rochus-Krankenhaus in Castrop-Rauxel erlebt hat. Wenn man die Geschichte der siebenjährigen Bibi kennt, kann man Karsai nur zustimmen. In Afghanistan wurde das junge Mädchen von einer Granate getroffen, mehrere Splitter blieben in ihrem rechten Bein stecken.

Als Mirwais Karsai Bibi am 30. Dezember 2017 nach Castrop-Rauxel brachte, stand es schlimm um sie. Drei große Operationen waren nötig, um Bibi die Amputation des Beins zu ersparen. Beim aufwendigsten Eingriff mussten zehn Zentimeter des entzündeten Knochens im Unterschenkel entfernt werden.

Im Anschluss folgte ein langwieriger Prozess, der Distraktion genannt wird. Mit einem Metallgestell, das täglich um einen Millimeter weiter auseinandergezogen wurde, sorgten die Ärzte der plastischen Chirurgie dafür, dass der Knochen nachwachsen konnte. Nach 88 Tagen musste Bibi diese unangenehme Behandlung am 24. Mai zum letzten Mal über sich ergehen lassen. „Seitdem darf sie wieder aufstehen und das Bein voll belasten“, sagt der plastische Chirurg Pascal Kirchhoff, der Bibi behandelt.

So haben die Ärzte im Rochus-Hospital Bibis Bein gerettet

Komplettes Rundumpaket

Seit die Distraktion abgeschlossen ist, wird Bibi von Physiotherapeuten im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine gebracht. Ganz eigenständig laufen kann sie noch nicht, aber mit Pascal Kirchhoff als Unterstützung wagt Bibi die ersten Schritte über den Flur der Station 3B.

Zielstrebig steuert sie die Theke der Schwestern an, zieht sich mit ihren Armen daran hoch und schaut Schwester Nina dahinter grinsend an. Auf die freundliche Frage „Na, was möchtest du denn haben?“, antwortet sie schelmisch: „Nix!“ Da muss Schwester Nina lachen: „Was du unter ‚nix‘ verstehst, weiß ich ja. Ich schau mal nach, was ich hier habe.“ Kurz darauf hält Bibi ein Wassereis mit Zitronengeschmack in der Hand und humpelt grinsend mithilfe von Pascal wieder zurück in ihr Zimmer.

Bibi malt total gern mit Filzstiften. Einen Teil ihres schweren Wegs hat sie schon gemeistert. Ganz geschafft ist er aber noch nicht.

Bibi malt total gern mit Filzstiften. Einen Teil ihres schweren Wegs hat sie schon gemeistert. Ganz geschafft ist er aber noch nicht. © Iris Müller

„Bibi bekommt hier die volle Rundumversorgung inklusive Freizeitprogramm“, sagt Pascal Kirchhoff. Die Krankenschwestern kaufen ihr Süßigkeiten, Kleidung oder nehmen sie mit zum Friseur. Und mit den Physiotherapeuten hat sie sogar den Dortmunder Zoo besucht. Ihr besonderes Highlight: „die Affen“.

Telefonate nach Hause

Die deutsche Sprache beherrscht Bibi mittlerweile sehr gut. „Sie versteht alles und spricht ganze Sätze selbst“, sagt Mirwais Karsai. Das führt bei Telefonaten mit den Eltern in Afghanistan schon mal zu kuriosen Situationen. „Bibi hat ihrem Vater ganz stolz vom Zoobesuch erzählt, allerdings auf Deutsch.“ Da musste Karsai übersetzen, denn Bibis Vater spricht ausschließlich Dari, die afghanische Form der persischen Sprache. Wenn Bibi zu ihren Eltern zurückkehrt, wird sie ihre Muttersprache voraussichtlich nicht mehr sprechen können. Das sei völlig normal, meint Karsai. Immer wieder beruhige er die Eltern der Kinder, die er zur Behandlung nach Deutschland bringe. Genauso schnell lernen diese nämlich auch wieder die Muttersprache, wenn sie in die Heimat zurückkehren.

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Bereits Ende Juni fliegt Karsai erneut nach Afghanistan. „Wir bringen fünf bis sechs gesunde Kinder wieder zu ihren Familien zurück. Auf dem Rückflug bringen wir neue junge Patienten mit.“ Darunter auch ein bekanntes Gesicht für die Ärzte im St.-Rochus-Krankenhaus.

Die achtjährige Souda war vor einem Jahr schon einmal hier behandelt worden. Bei einem Autounfall war sie schwer verletzt worden, kommt jetzt zur Nachbehandlung noch einmal zurück nach Deutschland. Sie war das erste Kind, das Mirwais Karsai und der Verein „Kinder brauchen uns“ nach Castrop-Rauxel brachten.

Umzug zur Gastfamilie nach Essen steht an

Auch für Bibi steht, wenn alles gut geht, am 11. Juni eine Reise an. Dann darf sie das Krankenhaus verlassen und bei ihrer Gastfamilie in Essen einziehen, muss dann nur noch ambulant betreut werden. Wie lange genau es dauern wird, bis Bibi der schwere Fixateur aus Metall wieder abgenommen wird, kann Pascal Kirchhoff noch nicht sagen. „Im Optimalfall in drei Monaten, aber das ist in der Medizin ein schwer einzuschätzender und sehr langer Zeitraum.“

Das Laufen wird Bibi im Übrigen noch ein weiteres Mal neu lernen müssen. „Der Fixateur wiegt etwa drei bis vier Kilogramm“, so Kirchhoff. Das sei für einen Erwachsenen so, als ob man ihm monatelang etwa 20 Kilogramm Blei ans Bein hängt.

Die Organisation "Kinder brauchen uns" arbeitet mit dem Kinderkrankenhaus in Kabul zusammen. In den vergangenen 15 Jahren wurden 650 Kinder nach Deutschland gebracht, medizinisch versorgt, und wieder zurück geflogen. In Castrop-Rauxel wurden bisher zwei Kinder betreut. Die Behandlung erfolgt kostenlos, die Organisation ist auf Spenden angewiesen: IBAN: DE68 3625 0000 0175 0911 49.
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