Die ehrenamtlichen Telefonseelsorger bleiben genauso anonym wie die Anrufer. Die Anrufe sind 2020 stark gestiegen. © picture alliance/dpa

Telefonseelsorge

Telefonseelsorgerin: In der Coronakrise rufen viel mehr Menschen an

Einsamkeit ist ein Tabuthema. Einsamkeit macht in Corona-Zeiten besonders zu schaffen. Das spürt die Telefonseelsorge. Immer mehr Menschen rufen an. Eine Castrop-Rauxelerin nimmt seit Jahren den Hörer ab.

Castrop-Rauxel

, 14.04.2021 / Lesedauer: 4 min

Ein Gespräch kann so beginnen: „Ich bin so einsam. Kann ich mit Ihnen reden?“ Oder auch so: „Guten Tag, ich hab Stress mit meiner Freundin und der Clique.“ Oder: „Ich bin ganz durcheinander. Kann ich Ihnen erzählen, was mir gerade passiert ist?“ Es gibt viele Anlässe, aus denen Menschen die Telefonseelsorge anrufen. Seit vielen Jahren hat Elke Tönnis (65) ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte.

Eins schickt die Castrop-Rauxelerin im Gespräch vorweg. Sie kümmert sich bei der Telefonseelsorge Recklinghausen um die Öffentlichkeitsarbeit, kann also mit Namen und Gesicht berichten über die ehrenamtliche Arbeit. Normalerweise bleiben alle Telefonseelsorger genauso anonym wie die Anrufer.

Elke Tönnis hört von vielen Problemen, Ängsten und Nöten der Menschen, die die kostenfreie Telefonnummer der Telefonseelsorge wählen. Manchmal kann sie konkrete Tipps geben oder auf Hilfsangebote verweisen. Oft hört sie einfach zu. „Nähe in der Distanz“, so beschreibt die Telefonseelsorge selbst die Stärken der Einrichtung, die es in Deutschland seit 1956 gibt.

Mehr als 100 ehrenamtliche Telefonseelsorger im Kreis

In Recklinghausen besteht sie seit 2008. Sie ist für den ganzen Kreis und damit auch für Castrop-Rauxel zuständig. Mehr als 100 Ehrenamtliche sitzen in vielen Schichten rund um die Uhr am Telefon. 26 von ihnen chatten außerdem. Die meisten sind Frauen. Drei Drei-Stunden-Schichten im Monat und sechs längere Nachtschichten im Jahr sind Pflicht. Dazu kommt ein kleines hauptamtliches Team, das Gunhild Vestner leitet.

Elke Tönnis engagiert sich bei der Telefonseelsorge. © privat

Elke Tönnis kann aus eigenem Zuhören nicht sagen, dass sich die Corona-Krise stark auswirkt. Die Themen seien die gleichen geblieben, sagt die Castrop-Rauxeler Telefonseelsorgerin. Das bestätigt auch die Statistik der Telefonseelsorge. Allerdings: Die Zahl der Seelsorge und Beratungsgespräche ist im Jahr 2020 um 20 Prozent auf rund 11.000 gestiegen.

Die Chatberatung habe sogar um 70 Prozent auf 1700 zugenommen. Diesen Weg wählen vor allem jüngere Menschen. Auch Kinder gehören dazu. Einsamkeit oder Probleme in der Schule sind bei ihnen häufige Themen.

In jedem vierten Gespräch geht es um Einsamkeit

„Corona ist bei den Menschen, die bei uns anrufen, eine Krise unter vielen“, vermutet Elke Tönnis. Manchmal habe die Pandemie aber sogar etwas Gutes. „Menschen beispielsweise, die kaum soziale Kontakte haben oder nicht mehr rauskommen, fühlen sich jetzt nicht mehr alleine mit ihrem Problem“, sagt sie. Nicht nur sie leben jetzt im Krisenmodus.

ANRUFEAuch in Corona-Zeiten hat sich das Profil der Anrufenden wenig verändert: Die meisten Anrufe kommen von Frauen (68 Prozent).Über die Hälfte der Anrufenden sind zwischen 50 und 69 Jahren.Viele Anruferinnen und Anrufer leben allein (55 Prozent).Die meisten sind nicht mehr berufstätig (53 Prozent).

Fast in jedem vierten Gesprächging es im vergangenen Jahr um Einsamkeit. „Das ist ein Thema, das schmerzt, krank macht und immer noch ein Tabu ist“, sagt Elke Tönnis. Und sei ein Thema, das unabhängig von der Corona-Pandemie in den vergangenen Jahren zunehme.

Nur: Mit den Corona-Beschränkungen sind Chancen weggefallen, Kontakt beispielsweise in Gemeinden oder Vereinen zu finden. „Manchmal sind wir die einzigen Ansprechpartner“, so Elke Tönnis. Und ja, auch Anrufer, die immer wieder anrufen, gibt es.

Sie berichtet aus der Statistik:

33 Prozent der Anrufer haben Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen.17,5 Prozent leiden unter depressiven StimmungenIn 11 Prozent der Telefonate berichten Anrufer von Ängsten.14 Prozent der Anrufe betreffen Konflikte in den Familien9 Prozent Streitigkeiten im nahen Umfeld11 Prozent PartnerschaftskonflikteImmerhin in jedem zehnten Gespräch geht es um Gedanken an Suizid oder um konkrete Suizidabsichten. Bei den Chatberatungen liegt hier der Anteil sogar bei 29 Prozent.

Sind Anrufe, in denen es um Suizid geht, besonders belastend? Elke Tönnis erläutert: „Wenn sich jemand wirklich umbringen will, wird es auch tun. Aber wenn jemand anruft, können wir sicher sein, dass er Hilfe will.“ Sie erzählt von einem besonderen Erlebnis in ihrer langen Zeit als Telefonseelsorgerin.

Hilfe auch in extremen Situationen

Ein junger Mann rief in der Telefonseelsorge an, als er gerade auf einer Brücke stand. „Ich wollte springen, aber ich habe es mir anders überlegt“, sagte er zu Elke Tönnis. Sie rief über eine genau dafür gespeicherte Telefonnummer die Feuerwehr an, die leitete alles Notwendige in die Wege. Und Elke Tönnis blieb am Telefon, bis der junge Mann ihr sagte: „Jetzt kommt Hilfe.“

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Elke Tönnis ist vor 15 Jahren zur Telefonseelsorge gekommen. „Das ist Teil meines Lebens geworden.“ Die Lehrerin, auch in Schulleitungen von Förderschulen aktiv, wollte etwas Soziales machen, aber bewusst nicht im pädagogischen Bereich. Damals startete eine neue Ausbildungsgruppe. Wenn sie darüber erzählt, wird klar, wie gründlich die Telefonseelsorger ausgebildet werden.

Lange und sorgfältige Ausbildung steht am Anfang

Ihre Ausbildung ging über eineinhalb Jahre und über 250 Stunden. Hier wurde nicht nur alles Wissenswertes und methodische Hilfen zur Gesprächsführung vermittelt und die Praxis, begleitet von Mentoren, erprobt. „Der erste Schritt betraf Selbsteinschätzung und Selbsterkenntnis“, sagt sie und nennt als Beispiel Bewerber, die selbst noch Trauma-Erfahrungen verarbeiten müssen, bevor sie sich um die Traumata anderer kümmern können. Auch später gibt es regelmäßig Fortbildungen.

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Welche Fähigkeiten sind gefordert? „Belastbarkeit, Einfühlungsvermögen, Interesse an psychosozialen Themen und Interesse an der Auseinandersetzung mit anderen Themen“, nennt Elke Tönnis. Eine bestimmte Berufs- oder Schulausbildung dagegen spiele keine Rolle.

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