
© Volker Engel
Rajko Kravanja: „Wir haben zu lange versucht, Kompromisse zu finden“
Kommunalwahl 2020
Der amtierende Castrop-Rauxeler Bürgermeister Rajko Kravanja erklärt seine ambitionierten Ziele für die zweite Amtszeit. Aber was hat er in fünf Jahren versäumt? Das Interview vor der Wahl.
Rajko Kravanja (SPD) wurde 2015 zum Bürgermeister von Castrop-Rauxel gewählt. Er löste damals den erfahrenen Parteigenossen Johannes Beisenherz ab. Seither ist der Informatiker mit slowenischen Wurzeln, Vater zweier Mädchen (1 und 4) und seit zwei Wochen Neu-Becklemer, mindestens zweimal als Krisenmanager in Sondersituationen gefragt gewesen. Ist er eher das vom Typ oder eher einer, der in Ruhe die Zukunft der Stadt gestaltet? Und hat er das in den vergangenen fünf Jahren hinreichend getan, wo ihm doch politische Gegner Stillstand unterstellen? Redakteur Tobias Weckenbrock interviewte ihn.
Sagen Sie mal Herr Kravanja, hatten Sie in den letzten Tagen eigentlich mal Kontakt zu Micky Beisenherz?
(lacht) Ja, wir haben kurz über Facebook geschrieben. Ich habe ihm angeboten, dass wir uns das teilen: Ich bleibe Bürgermeister von ganz Castrop und er darf darunter Bürgermeister von Henrichenburg sein. Ich finde, das ist fair, denn wenn er wirklich antreten würde, hätten wir alle keine Schnitte.
Zur Person
Rajko Kravanja ist 42 Jahre alt und verheiratet. Er lebt mit seiner Familie (zwei Töchter) in Becklem und ist in Ickern aufgewachsen. Neben seiner Tätigkeit als Bürgermeister reist er gerne und engagiert sich in Castrop-Rauxeler Vereinen.
Glauben Sie, dass seine Art von Humor überall verstanden wird?
Ich glaube, die Castroper kennen Micky Beisenherz ganz gut und wissen, dass er ein Henrichenburger Junge ist. Das können die glaube ich richtig einordnen.
Wäre er denn ein guter Kandidat oder Zweitkandidat für die SPD?
Als Zweitkandidat können wir uns darauf verständigen, das kriegt er glaube ich hin. Und der Name Beisenherz ist Programm. Der kann was, also insofern traue ich das Micky auch noch zu.
Spaß beiseite. Bürgermeister sein ist ja nun auch nicht immer lustig. Was eigentlich missfällt Ihnen an diesem Job am meisten?
Eigentlich macht der Job immer Spaß. Es gibt selten Tage, an denen ich ungerne ins Büro gehe. Natürlich ist es anstrengend. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf trifft mich auch, das Familienleben kommt relativ kurz. Was ich sehr schade finde ist, dass ich nicht mehr so viel Zeit habe, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Dafür ist die Themenvielfalt zu groß, man muss sich um viele Dinge kümmern.
Wenn es ums Thema Kümmern geht, waren Sie als Bürgermeister in zwei Sondersituationen gefragt, die man sich vorher so nicht ausmalt. 2015 kamen sehr viele Geflüchtete nach Castrop-Rauxel, die plötzlich aufgenommen werden mussten. Jetzt ist es die Corona-Pandemie, die Sie sehr beschäftigt. In welcher Rolle gefallen Sie sich besser: als Krisenmanager oder als Bürgermeister, der in Ruhe die Stadt gestalten kann?
Beides ist glaube ich das Gleiche, nämlich kümmern, Kommunikation, Transparenz herstellen. Natürlich abgesehen vom Arbeitsvolumen, das man dann hat, und von der Prioritäten-Setzung. Die Flüchtlingssituation war für mich im Amt eher hilfreich. Ich bin schnell mit vielen Bereichen ins Gespräch gekommen, habe sehr schnell Verwaltung gelernt. In der Corona-Pandemie stand vor allem die Frage von Kommunikation, Transparenz, vom Mitnehmen der Menschen und sehr viel organisieren im Raum. Am Ende ist alles Kümmern, und so würde ich mich auch immer verstehen: als Kümmerer für die Menschen in unserer Stadt.
Aber dadurch, dass Sie diese krisenhaften Situationen hatten, ist wahrscheinlich viel auf der Strecke geblieben, oder?
Das ist leider so. Das ist eine Frage von Prioritätensetzung. Eines meiner Herzensthemen zum Beispiel, meinen Rennverein, hätte ich gerne schon länger aus der Taufe gehoben. Aber das musste hinten anstehen. Genauso ist es bei anderen Themen. Wir merken jetzt, dass das wieder anläuft. Deswegen müssen wir jetzt beides parallel machen. Das erfordert eine Doppelbelastung hier im Hause, aber bisher haben wir das sehr gut hingekriegt.

„Wenn wir da nicht weiterkommen, können wir die Stadt im Prinzip abschließen. Dann bin ich nicht der richtige Bürgermeister, denn ich will Stadt entwickeln", sagt Rajko Kravanja. Dieses Foto zeigt ihn bei seiner Rede nach der erneuten Nominierung beim SPD-Parteitag. © Thomas Schroeter
Es gibt politische Gegner, die sehen das anders, die sagen, es herrschte viel zu viel Stillstand in Castrop-Rauxel. Es sei zu wenig gestaltet worden. Wie erklären Sie sich solche kritischen Worte?
Wenn die das nicht so sehen würden, würden sie nicht selbst antreten, sondern mich wählen. Wenn, dann muss man es konkret machen und sagen, an der Stelle hätte mehr passieren müssen. Dann kann man darüber ins Gespräch kommen.
Die Bürger sagen zum Beispiel, dass Kita-Plätze fehlen. Vergangenes Jahr haben Eltern Klagen angedroht, um ihren Rechtsanspruch geltend zu machen. Auch die Frage nach bezahlbarem Wohnraum: Da sagen einige Leute, es fehle an Gestaltung.
Bei Kita-Plätzen stehen wir im Vergleich sehr gut da. Was nicht heißt, dass alles gut ist. Aber wir haben geburtenstarke Jahrgänge erlebt, die waren so niemals prognostiziert. Jetzt galt es, wieder ein Kita-Ausbauprogramm auf den Weg zu bringen. Das haben wir gemacht, bisher haben wir allen ohne Klage einen Kita-Platz besorgt. Ich hoffe, dass das auch jetzt gelingen wird. Wir sind noch im Nachrücker-Verfahren, werden aber in den nächsten fünf Jahren fünf Kitas bauen. Insofern glaube ich, dass wir sehr gut dastehen. Das höre ich immer wieder von Menschen, die hierhin ziehen und sagen, das sei in ihren Heimatstädten ganz schlimm gewesen.
Darauf wollen wir uns aber nicht ausruhen. Wir sagen, dass Castrop-Rauxel die lebenswerteste Stadt im Ruhrgebiet sein soll. Dafür braucht es Kita-, OGS-Plätze, eine Durchgängigkeit vom Kita- bis zum Schulbereich.
Halten Sie Ihren Beruf für gut vereinbar mit den Möglichkeiten, die die Kinderbetreuung für Ihre zwei Töchter hier anbietet, was Betreuungszeiten-Flexibilität angeht? Es gibt nur eine Einrichtung, inzwischen mit kleiner Zweigstelle, die total flexibel ist. Solche Modelle brauchen Eltern, die nicht zu normalen Bürozeiten arbeiten. Gibt es das zu wenig in Castrop-Rauxel?
Definitiv, das gibt es grundsätzlich zu wenig im Land NRW. Die Rasselbande, die Sie als Beispiel nehmen, ist privat finanziert. Die einzelnen Bausteine, sofern sie nicht über das Kibiz anrechenbar sind, müssen privat bezahlt werden. Wir brauchen solche Modelle staatlich bezahlt. Wir werden nicht alles abdecken können, aber brauchen definitiv eine größere Randzeiten-Betreuung.
Das werde ich in den nächsten fünf Jahren umsetzen. Wir werden fünf Kitas bauen. Damit verbunden wird die Frage von Flexibilität sein: Wie kriegen wir hin, auch vor 7 oder nach 16 Uhr einen Kita-Platz anzubieten? Das wird nicht in jeder Kita funktionieren, dafür ist der Bedarf dann doch zu gering. Aber für die gesamte Stadt bin ich fest davon überzeugt, dass wir das an den Stellen realisieren können, an denen wir es benötigen. Genauso die Frage von Betriebskitas. Flexibilität ist Grundbaustein für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und das ist das, was wir in den nächsten fünf Jahren versprechen.

Bürgermeister Rajko Kravanja als Moderator und Schiedsrichter beim Eisstockschießen im Adventszelt. In seiner Rolle als erster Bürger hat er viele Jobs. © Christian Püls
In der vergangenen Ratsperiode gab es zwei besonders polarisierende Themen, die dasselbe Themenspektrum berührten: das Baugebiet an der Grundschule Alter Garten, an dem die Ampelkoalition gescheitert ist, und die Alte Eiche. Welche Fehler hat da die SPD, vielleicht auch die Verwaltung aus Ihrer Sicht gemacht?
Erstmal geht es um die Grundsatzfrage, was wir in dieser Stadt wollen. Das ist auch das, was den Wahlkampf als eines der Mega-Themen beherrscht. Wollen wir uns weiterentwickeln in eine Wohnstadt, eine lebenswerte Stadt im Ruhrgebiet? Dann benötigen wir Wohnraum. Dass der am Ende grün ist, ist keine Frage. Ich glaube, darüber müssen wir heutzutage gar nicht mehr diskutieren. Aber ob wir Wohnraum anbieten wollen, ist die Kernfrage. Da sagt die Sozialdemokratie klar: Ja! Das haben in der alten Koalition andere weniger so gesehen. Deswegen haben wir gesagt: Nein, das geht gegen unsere Grundüberzeugung. Wir wollen Familien neuen Wohnraum anbieten. Dafür ist es notwendig, in die Fläche zu gehen. Wohin sonst?
Und dafür hätten Sie wohl auch auf eine alte Eiche von 250 Jahren verzichtet...
Den Prozess haben wir sehr breit diskutiert, aber am Ende ging es gar nicht um die Eiche. Es ging um die Frage: Soll auf einem Gebiet, das sehr gut infrastrukturell erschlossen ist, Wohnraum entstehen? Es gibt noch ein, zwei Protagonisten, die den Kompromiss ablehnen, weil sie wollen, dass alles grün bleibt. Wir aber wollen Wohnraum, grünen Wohnraum. Für uns ist hier die Europastadt im Grünen. Grünen Wohnraum sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig. Aber diese Grundsatzfrage ist entscheidend: Wohin wollen wir uns entwickeln, wo steht Castrop-Rauxel 2030? Wenn wir da nicht weiterkommen, können wir die Stadt im Prinzip abschließen. Dann bin ich nicht der richtige Bürgermeister, denn ich will Stadt entwickeln.
Was haben Sie versäumt, worum hätten Sie sich mit dem Wissen von heute stärker kümmern müssen?
Ich glaube, wir haben an ein, zwei Stellen die Grundsatzfrage zu lange vor uns hergeschoben und nochmal in drei Schleifen diskutiert, versucht, einen Kompromiss zu finden. Im Bereich Schulentwicklung hätten wir auch weiter sein können. Auch da haben wir eine Extraschleife gedreht, mit den Kolleginnen und Kollegen aus Waltrop viel diskutiert. Am Ende sind wir dann doch zu der Entscheidung gekommen: Wir machen es selber. Wir hätten damit ein Jahr eher sein können.
Würden Sie denn sagen, das System mit wechselnden Mehrheiten im Stadtrat hat sich durchaus bewährt? Oder würden Sie doch dazu tendieren, in der neuen Periode wieder einen Koalitionsvertrag und Partner dazu zu finden?
Da muss man die Wahlprogramme nebeneinander legen. Das habe ich natürlich auch schon mal gemacht. Mit wem kann man welches Thema am besten durchbringen? Davon würde ich abhängig machen, ob es Sinn macht, eine feste Zusammenarbeit einzugehen.
Mit wem ist das denn?
Es gibt unterschiedliche Schnittmengen. Wir haben große mit den Grünen, gerade in der Frage von Sozial- und Schulpolitik, aber wir haben auch sehr große mit der CDU im Baubereich. Auch die Kollegen der FWI und wir haben viele Schnittmengen. Es gibt viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Das muss man aber nebeneinander legen, wie das in jedem normalen Gespräch nach einer Wahl ist. Macht es Sinn über fünf Jahre? Es muss nicht gleich eine Koalition sein. Es können auch an ein, zwei Stellen Kooperationsvereinbarungen sein, man einigt sich auf bestimmte Themen.
Was sind auf Ihrer Prioritätenliste die nächsten drei Punkte für eine mögliche zweite Amtszeit?
Vor allen Dingen die Frage von Vereinbarkeit von Familie und Beruf, also Kita-Plätze ausbauen, OGS-Plätze schaffen, die Schulstruktur so aufstellen, dass man in Castrop-Rauxel wohnen und im Ruhrgebiet leben kann. Davon leitet sich der zweite Punkt ab, die Frage nach der Vernetzung von Castrop-Rauxel. Wir sitzen mitten im Ruhrgebiet. Und das bedeutet, dass wir eine viel bessere ÖPNV-Verbindung in die umliegenden Städte benötigen. Also zweiter Punkt: Ausbau von Bus- und Bahnverbindungen. Dazu gehört auch der Radverkehr. Ich glaube, wir sind sehr gut im Freizeitbereich aufgestellt, aber wir müssen noch daran arbeiten, dass wir Berufsverkehr und den allgemeinen Tagesverkehr besser hinkriegen. Das heißt Radwege-Ausbau. Und der dritte Punkt ist die Frage von Flächen, von Wohnraum schaffen. Wir müssen es schaffen, den Menschen in Castrop-Rauxel den bezahlbaren Wohnraum anzubieten, der gefordert ist. Wenn man sich das Ruhrgebiet derzeit anguckt, dann haben wir steigende Zahlen in Castrop-Rauxel, weil wir attraktiv sind, weil wir attraktiv leben.
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.
