Pierre Scheeper weiß es alles noch ganz genau. Er kann sich genau an diesen einen Tag erinnern, der sein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt hat. Es war ein Tag wie jeder andere eigentlich auch. Eine Autofahrt auf der Autobahn – wie jede andere auch. Aber irgendetwas war anders. Eine Leere, regelrechte Gleichgültigkeit machte sich breit. Die Gewissheit, dass einem doch eigentlich alles egal war, was man so den ganzen Tag so tut. Ein Gefühl, das plötzlich und in rasender Geschwindigkeit an die Oberfläche gespült wurde und es nicht mehr zugelassen hat, beiseite geschoben zu werden.
„Das war nach einer großen Veranstaltung mit, ich weiß nicht mehr genau, vielleicht 1000 oder 1500 Leuten“, erinnert sich Pierre Scheeper. Es war Nacht. Das eine Event hinter sich, war Pierre Scheeper schon wieder auf dem Weg zum nächsten. „Ich bin die A9 von Nürnberg aus runtergefahren.“ An München vorbei, weiter Richtung Garmisch-Partenkirchen.
Da wollte er hin, am nächsten Tag stand gleich die nächste Veranstaltung an. „Aber ich bin an der Ausfahrt einfach vorbeigefahren. Ich konnte nicht abfahren irgendwie“, sagt Pierre. „Ich bin immer weiter und weiter gefahren. Irgendwann war ich in den Bergen, bin die Serpentinen langgefahren.“ Dann sieht er ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen in Österreich“. Tränen schossen in seine Augen. „Das war der Moment, da dachte ich dann nur: Junge, du bist krank“, sagt Pierre. „Und das war die Geburt meines Burnouts.“
Was hat ihn so zermürbt? Wie kam er an diesen Punkt? Was ist schiefgelaufen im Leben des Einzelhändlers, der seit mittlerweile vier Jahren den Castrop-Rauxelern als lebensfroher und eigentlich immer gut gelaunter Betreiber von „Pierres Wein- & Genusswelt“ bekannt ist?
Lindenberg, Clinton, Schumacher
Was kaum einer weiß, der ihn nur aus seinem Geschäft in Castrop-Rauxel kennt – Pierre war ein absoluter Spitzenkoch. Er hat ein eigenes Unternehmen gegründet, die „Pierre Scheeper Cooking GmbH“, mit dem er bei großen Veranstaltungen teils tausende Gäste bekocht hat. Dabei hat er in der obersten Liga mitgespielt, hatte und hat noch immer Kontakt zu bekannten TV-Köchen. „Es ist eine kleine Szene“, sagt Pierre. Gekocht hat er zum Beispiel schon für Prominente wie Udo Lindenberg, Paris Hilton und Hillary Clinton. Entweder bei großen Events, aber auch privat.
Für den ehemaligen Rennfahrer Ralf Schumacher habe er andauernd in der Küche gestanden. „Wir waren fast wie Kumpels.“ Viele Prominente schätzen es, ihren eigenen Privatkoch zu haben. Auch hochrangige Politiker hat er des Öfteren bekocht. „Das sind dann eher private Abendessen gewesen“, berichtet Pierre. Zu viel will er nicht verraten, mit den großen Namen will er nicht prahlen. „Man bekommt natürlich auch hinter den Kulissen viel mit und die Leute verlassen sich darauf, dass das privat bleibt.“

Mit seiner „Pierre Scheeper Cooking GmbH“ hat er auch selbst Köche ausgebildet; sie fit dafür gemacht, seine Kreationen umzusetzen. Das normale Tagesgeschäft waren aber Events, oft mit tausenden Gästen. So groß, dass Pierre selbst überhaupt keine Zeit hatte, den Kochlöffel zu schwingen. Das haben die bei ihm angestellten Köche übernommen. Pierre war mehr Manager. Alle Stränge in der Hand. Von Termin zu Termin hetzend und von Event zu Event. Mit dem Auto ist er quer durch die Weltgeschichte gefahren. „Zuhause war ich eigentlich nie. Den einen Tag war ich in Hamburg, den nächsten Tag in Wien, dann in München, Berlin oder Düsseldorf. Ich hab‘ teilweise mehrere Nächte hintereinander nicht richtig geschlafen. So war mein Leben.“
Immer unterwegs, das Telefon immer am Ohr. „Zu dieser Zeit hätte kein Mensch mit mir ein vernünftiges Gespräch führen können, weil ständig mein Handy geklingelt hat“, erzählt der gebürtige Franzose. „Ich habe das mal nachgezählt – ich habe pro Tag 372 Anrufe bekommen.“ Ständig wollte jemand etwas. Einer seiner Köche ist krank und fällt aus – was jetzt? Ein weiteres Event noch zwischenschieben – kriegen wir das kurzfristig hin? „Du löst nur Probleme, bist ständig im Hamsterrad“, sagt Pierre. „Alles hängt von dir ab. Das war ein riesengroßer Druck.“
Lieber keine Fernsehkarriere
Auch eine Karriere als Fernsehkoch hätte Pierre Scheeper starten können. Die Angebote hätten auf dem Tisch gelegen. „Ich wurde häufig gefragt“, sagt er. Gewollt hat er nie. „Ich vertrete da eine andere Philosophie.“ Er müsse nicht im Fernsehen sein, um sein Kunstwerk zu präsentieren, um sich gut zu fühlen. „Ich bin Koch und kein Entertainer. Ich wollte keine Show machen.“ Einen wichtigen Rat habe ihm damals Koch-Kollege Alfons Schuhbeck gegeben. „Er hat mir in einem sehr ernsten Gespräch gesagt: ‚Junge, mach nicht unseren Fehler. Geh nicht zum Fernsehen.‘“
Was er allerdings gemacht hat, war das Kreieren neuer Gerichte für bekannte TV-Köche. „Das läuft so: Die haben ihre Kochshows und das ist ein Riesen-Aufwand. Da sind die Tage voll mit Drehs. Dann haben sie aber noch ihre Restaurants. Sich dann noch neue Gerichte zu überlegen – dafür fehlt vielen einfach die Zeit. Das habe ich dann viel gemacht. Ich war der Architekt der Gerichte.“ Auch die Speisen, die bei den Veranstaltungen als Catering aufgefahren wurden, hat Pierre Scheeper als kreativer Kopf vorher selbst entwickelt. Ob Molekularküche oder moderne Küche – ständig musste er sich etwas Neues einfallen lassen. „Irgendwann ist man ausgebrannt.“

Verschleißerscheinungen treten immer häufiger auf, erzählt Pierre. Er erleidet insgesamt drei Schlaganfälle. Die tut er ab. War nicht so schlimm. Einfach alles wegschieben, lieber schnell wieder auf die Beine kommen, schnell wieder zurück ins Geschäft. Die deutlichen Warnzeichen, die ihm sein Körper sendet, arbeitet er einfach weg. „Ich hatte eine Veranstaltung in Lemgo, das muss irgendwann 2017 oder 2018 gewesen sein. Um 3 Uhr in der Nacht war ich mit allem fertig, bin dann zum Parkplatz gegangen. Und ich hab mein Auto nicht mehr gefunden. Ich bin hin und her gelaufen, hab auf meinen Autoschlüssel gedrückt, damit ich das Aufblinken der Scheinwerfer sehen kann. Aber ich hab‘s trotzdem nicht gefunden.“
Verwirrt auf einem Parkplatz. Nach außen aber bloß den Schein wahren. „Es kamen Partygäste an mir vorbei, die auch auf dem Weg zu ihrem Auto waren. Ich hab‘ so getan, als wäre alles in Ordnung, als wäre ich nur frische Luft schnappen gewesen. Ich war zu stolz, um mir einzugestehen, dass ich ein Problem habe. Ich habe einfach weitergemacht.“ Sein Stolz steht ihm im Weg und verhindert, dass er sich Hilfe sucht.
Was ist denn Castrop-Rauxel?
Erst Monate später, nach der ungewollten Autofahrt bis nach Österreich, zog Pierre dann die Reißleine. „Ich war danach acht Wochen weg. Ich war in Frankreich. Ganz allein. Hab mir ein neues Handy gekauft.“ In dem Land, in dem er geboren ist, kommt er zur Ruhe, hat endlich Zeit mal nachzudenken und zu reflektieren. „Als ich wieder gesund war, hab ich mich gefragt: Ist es das wirklich wert?“ Seine ziemlich eindeutige Antwort darauf war: Nein. „Dann hab‘ ich entschieden: Für mich ist es jetzt vorbei.“

Der in Marseille geborene Pierre Scheeper stellt sein Leben komplett auf den Kopf. Er kommt nach Castrop-Rauxel. 2020 eröffnet er seinen Weinhandel in der Europastadt. „Viele Kollegen aus der Branche waren erschrocken.“ Was ist denn Castrop-Rauxel? Was machst du denn da? Du verschwendest dein Talent, so der überwiegende Tenor der Reaktionen. „Aber die Leute, die mich wirklich kennen, die wissen, dass das der richtige Schritt für mich war.“
Pierre sagt aber auch ehrlich: „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich das alles nicht manchmal vermisse. Immer gefragt zu sein, immer unterwegs, diesen Status habe ich natürlich auch genossen.“ Aber unterm Strich ist er sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.
Was wirklich wichtig ist
Denn Wein sei schon immer seine große Leidenschaft gewesen. „Das ist meine Materie, meine Welt.“ Mit unkonventionellen Trauben will er seine Kunden überraschen. „Wenn du wie ich Koch bist, dann speicherst du Geschmäcker und Gerüche ganz anders ab. Das ist eine Kunstform, eine Philosophie für mich.“ Jetzt hat Pierre das Glück gefunden. Auf Umwegen zwar, aber er hat es gefunden. „Und das ist wertvoller als das große Geld zu machen“, findet der Bochumer.
„So wie ich jetzt lebe, lebe ich gesund. Ich merke immer noch, wie es mir von Tag zu Tag besser geht.“ Für Pierre steht fest: An einen solchen Tiefpunkt wie damals mit dem Burnout will er nie wieder kommen. Statt Dauerstress und Erfolgsjagd macht er jetzt fast nur noch, was ihm gefällt, strebt nach Gelassenheit. „Ich muss niemandem mehr etwas beweisen und das fühlt sich unglaublich frei an.“
Im Februar 2025 wird Pierre 57. Dass er sich bei weitem noch nicht zur Ruhe setzen will, zeigen seine Pläne für seine „Wein- & Genusswelt“ auf dem Hof Schulte-Rauxel. Nach der Wiedereröffnung Ende Januar will er nicht einfach nur ein Weingeschäft wie jedes andere führen. Er will einen Ausbau zu einer Event- und Weinbar-Location mit Außenterrasse vorantreiben. „Da werde ich vielleicht auch mal spontan was für die Gäste kochen“, meint Pierre. „Aber nicht aus Zwang, sondern aus purer Freude.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien am 10. Februar 2024.
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