Mahnwache gegen Altersarmut: Aber wie groß ist sie eigentlich in Castrop-Rauxel?

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Mahnwache gegen Altersarmut: Aber wie groß ist sie eigentlich in Castrop-Rauxel?

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Fridays gegen Altersarmut wird auch in Castrop-Rauxel als Mahnwache stattfinden. Die Gruppe ist umstritten. Aber auch die zum Teil gehandelten „Fakten“. Eine valide Ermittlung ist schwer.

Castrop-Rauxel

, 10.01.2020, 11:54 Uhr / Lesedauer: 4 min

Wie steht es um die Armut im Alter in Castrop-Rauxel? Das wäre die Frage, die man erörtern müsste, wenn man sich mit der Gruppierung „Fridays gegen Altersarmut“ auseinandersetzen wollte.

Unsere Redaktion tut das, denn die Gruppierung tritt nun erstmals in Castrop-Rauxel in Erscheinung: Sie wird laut eigener Ankündigung und nach Aussage der Polizei am 24. Januar eine Mahnwache auf dem Castroper Marktplatz veranstalten.

Quoten sorgen teils für Verwirrung

Laut stetigen Datenerhebungen der Bertelsmann-Stiftung betrifft das Thema ganz konkret und finanziell in Castrop-Rauxel 3,3 Prozent. Dieser Anteil der Über-65-Jährigen wird auf dem Portal wegweiser-kommune.de als von Altersarmut betroffen bezeichnet, bezogen auf das Jahr 2017.

Demnach ist diese Altersarmuts-Quote über die Jahre hinweg leicht gestiegen: 2009 lag sie bei 2,5 Prozent, 2014 bei 3,3 Prozent.

Die Quote berechnet sich, indem man die Zahl der Einwohner über 65 Jahren mit der der Bezieher von Grundsicherung im Alter in Relation setzt. Dies als Indikator für Altersarmut zu nehmen, ist aber umstritten.

Die Quote berechnet sich, indem man die Zahl der Einwohner über 65 Jahren mit der der Bezieher von Grundsicherung im Alter in Relation setzt. Dies als Indikator für Altersarmut zu nehmen, ist aber umstritten. © wegweiser-kommune.de

Aber schon diese Quoten-Lage hatte in anderen Orten der Umgebung bereits für Verwirrung gesorgt , vielleicht auch für einen bewussten Umgang mit falschen Fakten: Ralf Piekenbrock, der in Selm als Initiator der Bewegung und Anmelder einer ähnlichen Mahnwache fungiert, hatte daraus für Selm betroffene 826 Menschen ermittelt.

Richtig ist, dass es dort aber laut dieser Studie nur 174 Menschen sind. Grund der Zahlenverwirrung: ein Rechenfehler. Piekenbrock hatte die Quote auf die Gesamtzahl der Einwohner allen Alters bezogen.

Kontakte in der Anmelder-Szene

Der Anmelder der Mahnwache in Castrop-Rauxel Thomas Karwath steht im Internet in Kontakt mit seinem Mitstreiter Ralf Piekenbrock. Beide sind in der kleinen, eher unbekannten Familienpartei aktiv. Karwath sieht in dieser Parteiarbeit aber keine Verbindung zur geplanten Mahnwache.

Sie sind vernetzt, wie die gesamte Szene, die sich zumindest bei Facebook koordiniert. Denn die Demonstrationen am 24. Januar sollen bundesweit zeitgleich stattfinden.

Aber zurück zur Ausgangsfrage: 3,3 Prozent der alten Menschen in Castrop-Rauxel sollen arm sein. Das sagt diese vielzitierte Studie. Doch es gibt berechtigte Kritik: Lässt sich aus der Betrachtung der Sozialleistungsempfänger überhaupt ableiten, dass diese Menschen arm sind und andere nicht? Und wären das überhaupt viele?

15.800 Castrop-Rauxeler sind über 65 Jahre alt

In Castrop-Rauxel gibt es 15.800 Menschen über 65 Jahre. 3,3 Prozent bedeutete also, dass es rund 520 Personen wären. Im Kreisgebiet liegt die Quote bei 4,6 Prozent. In der Nachbarstadt Herne bei 4,0 Prozent, in Dortmund bei 6,5 Prozent (alles 2017). In Haltern am See liegt sie seit 2012 konstant bei 2,0 Prozent.

Zum Vergleich auch: Die Kinderarmut lag 2017 laut Bertelsmann-Erhebungen in Castrop-Rauxel bei 26,6 Prozent. Sie stieg von 2009 (22,6 Prozent) relativ konstant. Im Kreis Recklinghausen liegt sie bei 30,9 Prozent, in Dortmund bei 32 Prozent. Hier werden Kinder unter 15 Jahren ausgewiesen, die selbst oder über eine Bedarfsgemeinschaft, also meistens die Familie, Sozialgeld erhalten.

Sind sie arm? Erfasst man damit alle Armen? Die Frage bleibt, denn eigentlich sollen Grundsicherung oder Sozialhilfe oder Hartz IV ja ein Leben oberhalb des Existenzminimums sichern.

Verschiedene Definitionen von Armut: Welche ist richtig?

Wer in Deutschland von Armut redet, spricht nicht über absolute Armut. Als arm gilt nach der Definition der Weltbank, wer am Tag weniger als 1,90 Dollar zur Verfügung hat. Das Existenzminimum, das der deutsche Staat seinen Bürgern sichert, liegt deutlich darüber.

In Deutschland geht es um relative Armut, die man bemisst am bedarfsgewichteten mittleren Nettoeinkommen. Es gilt: Wer weniger als 60 Prozent davon an Einkommen hat, liegt unterhalb der relevanten Armutsgrenze.

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Diese Grenze differiert: Sie liegt bei Ein-Personen-Haushalten bei 1035 bis 1136 Euro Einkommen, je nach Datengrundlage. Das Statistische Bundesamt und der Paritätische sind sich da nicht einig.

Die Armutsquote insgesamt liegt in Deutschland bei etwa 15 bis 16 Prozent, in NRW bei 16 bis 18 Prozent – auch hier je nach Quelle. Jedenfalls bei weit über 3,3 Prozent, wenn man die Altersangaben mal großzügig unter den Tisch fallen ließe.

Thema Teilhabe ist für die Stadtverwaltung zentral

Vielleicht hilft die Stadtverwaltung hier weiter. Sozialdezernentin Regina Kleff erklärt, man fokussiere sich bei dieser Aufgabe auf das Thema Teilhabe: Bei Kindern sei das auf Basis einer Unicef-Liste, die Indikatoren von Kinderarmut aufzeigt, gemeinsam Geburtstage zu feiern, Freunde zum Spielen nach Hause einladen zu können, Bücher zu besitzen und ähnliche Dinge.

„Hier möchten wir ansetzen und können dies nur mit der Unterstützung der Wohlfahrtsverbände, die nah dran sind und bereits zahlreiche segensreiche Angebote vorhalten“, sagt Kleff im Gespräch mit unserer Redaktion. Kommende Woche treffe sich ein Runder Tisch, an dem die Ideen weiter ausgearbeitet würden.

Dunkelziffer bei Altersarmut offenbar höher

Neben Kinderarmut sei „die Frage von Altersarmut in unserer Stadt ein sensibles und wichtiges Thema“, so Kleff weiter. Genauere Zahlen als die Bertelsmann-Stiftung kann die Stadt auf Anfrage unserer Redaktion zurzeit nicht beisteuern, aber: „Hier wird die Dunkelziffer deutlich höher sein, weil es eine größere Zahl von Menschen gibt, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind und sich möglichweise keine Unterstützung holen“, sagt Regina Kleff. Aus Scham oder mangelnder Kenntnis über mögliche Hilfsangebote, glaubt die Sozialdezernentin.

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Als Beispiel für die Bedrohung von Altersarmut führt sie die „Große Witwenrente“ an: In vielen Fällen erhalte die Frau nur noch 60 Prozent der bisherigen Rente, wenn der Mann stirbt. „Kosten für Miete, Strom reduzieren sich jedoch wenn überhaupt nur marginal“, so Kleff.

Ein anderes Beispiel seien Mietsteigerungen: „Sie führen dazu, dass alleinstehende Frauen häufig in eine prekäre Situation kommen und möglicherweise die ehemalige Familien- oder Ehewohnung verlassen müssen.“

Aufsuchende Seniorenarbeit soll helfen

Auch hier gelte das Credo, Angebote zur Teilhabe zu machen. Und um der Dunkelziffer auf die Spur zu kommen, wolle man aufsuchende Seniorenarbeit leisten. „Dies bedarf jedoch der entsprechenden Ressourcen“, so Kleff. Es gelte, die Ressourcen im Quartier zu stärken und zu nutzen. „Es gibt in Castrop-Rauxel bereits zahlreiche gute Angebote.“

Die grundsätzliche Frage von Armut müsse übergeordnet und strukturell betrachtet werden. „Dies sollten wir mit der Kommunalpolitik aus den Städten heraus tun und uns in die Debatte einmischen“, fordert Kleff. „Es geht nicht darum, einen weiteren Bericht zu erstellen, der die Gegebenheiten aus den Armutsberichten von Land und Bund auch für Castrop-Rauxel bestätigt, sondern ein Handlungskonzept vorzulegen und umzusetzen.“

Verwaltung arbeitet an Sozialbericht

Daran arbeite die Stadt Castrop-Rauxel derzeit: am Sozialbericht für Castrop-Rauxel. „Darin wollen wir eine gute und transparente Datenlage bündeln, welche stetig fortgeschrieben werden kann“, kündigt Regina Kleff an.

Die Stadt Castrop-Rauxel, so Kleff, habe sich jedenfalls zusammen mit den Kommunalpolitikern zum Ziel gesetzt, Maßnahmen zu entwickeln, um den Auswirkungen von Armut in Castrop-Rauxel entgegenzuwirken.

Politisch wurde das im vergangenen Jahr im Betriebsausschuss 2 vorberaten und im Stadtrat beschlossen. „Hierbei werden die verschiedenen Generationen in den Blick genommen und eruiert, an welchen Stellen und wodurch eine Disparität in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entsteht und wie wir dieser begegnen können“, sagt Kleff.