
© Pietsch
Interview: „Ich habe einen wunden Punkt der Stadtgeschichte angefasst“
Roman erschienen
31 Kinder aus Castrop-Rauxel starben vor 103 Jahren bei einer Kinderlandverschickung an einer Vergiftung. Nun ist ein Roman zu diesem Stück Stadtgeschichte erschienen. Wir sprachen mit dem Autor.
Diesen Herbst ist ein Buch auf den Markt gekommen, das sich mit einem Stück Castrop-Rauxeler Stadtgeschichte befasst: 1918 kamen 31 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren bei einer Kinderlandverschickung nach Posen ums Leben. Sie starben, weil sie giftige Pilze aßen. Die begleitende Lehrerin und neun weitere Kinder überlebten.
Der Roman basiert auf dieser Geschichte und setzt sie in Szene: Vom Elend des Nachkriegs-Frühjahres 1918 über die Verschickung der Kinder aufs Land, wo es ihnen besser ergehen sollte, die Pilz-Suche und die Aufforderung der Köchin an die Jungen, noch weitere Pilze zu sammeln bis hin zum Tod der Kinder befasst sich der Autor Andreas Pietsch mit den Fragmenten, die dazu in verschiedenen Quellen überliefert sind – und bettet sie in frei konstruierte, aber historisch verifizierte Umstände der damaligen Zeit ein.
Ob es die Zugverbindung von Castrop über Berlin bis nach Wreschen ist, die auf wahren Zeitplänen basiert, die Namen und wahren Hintergründe einiger Charaktere ist: Entstanden ist ein Roman von 160 Seiten, der die Castrop-Rauxeler berühren wird.
Auf dem Friedhof St. Lambertus gibt es einen großen Gedenkstein für 30 der 31 damals verstorbenen Kinder; ein Kind wurde in Dortmund-Marten bestattet. An diesem Denkmal wird bis heute vieler Kinder gedacht, die im Mutterleib oder kurz nach der Geburt verstorben sind. Wir sprachen mit dem Autor, der auf Schwerin groß wurde, aber heute in Oberfranken bei Coburg lebt.

Gebürtiger Castrop-Rauxeler ist Andreas Pietsch. Er hat sich eines Stückes Stadtgeschichte angenommen, obwohl er längst nicht mehr in der Europastadt lebt, und einen Roman aus der Geschichte um die mit Pilzen vergifteten Kinder von 1918 geschrieben. © Pietsch
Herr Pietsch, wie kommen Sie in Bayern darauf, einen Roman über diese Geschichte zu schreiben?
Na, das ist einfach: Ich bin gebürtiger Castrop-Rauxeler, habe meine Kindheit auf Schwerin verbracht, 1982 am ASG Abitur gemacht, war da auch mal zwei Jahre Schülersprecher. Wie das dann halt so ist: Meine Großmutter, die 1983 verstorben ist, hat mir in den 70er-Jahren von der Katastrophe der Pilzkinder erzählt, wie vermutlich viele Omas ihren Enkeln in Castrop-Rauxel. Nachdem ich in Bonn Germanistik und Philosophie studiert hatte, habe ich nicht den Lehrerberuf gewählt, sondern bin in die Unternehmenskommunikation gegangen und lebe seit 1991 vom Schreiben, seit 1997 als selbstständiger Autor.
So schön das ja in der Unternehmenskommunikation und Pressearbeit ist: Man schreibt heute was, morgen wird es gedruckt, aber übermorgen ist es Altpapier. Ich weine mich deswegen nicht in den Schlaf, denn ich kann davon gut leben. Aber im Hinterkopf hatte ich stets das Gefühl, dass ich etwas schreiben sollte, das bleibt. Und so bin ich mal über den Friedhof an der Wittener Straße gegangen und mir fiel der Gedenkstein der Pilzkinder dort auf.
Die Geschichte, dachte ich, ist relativ unerforscht. Alle paar Jahre gab es mal Berichte darüber in der Zeitung, aber sie waren immer gleich. Was genau passiert ist: Man weiß es nicht. Eigentlich nur, dass 31 Kinder an einer Pilzvergiftung gestorben sind. Aber warum? Die Hintergründe sind unklar.
Der Autor und sein Erstlingswerk
- Andreas Pietsch (58) ist freischaffender Autor und arbeitet in der Unternehmenskommunikation für verschiedene Auftraggeber.
- Das Buch „Septembersonntag“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Es ist sein erster Roman.
- Im Herbst 1918 kamen bei einer Jugendfahrt 31 Kinder aus Castrop-Rauxel ums Leben, als sie in der Provinz Posen im heutigen Polen Pilze sammelten und sie aßen.
- Das Buch, das eine Mischung aus historischer Quellenrecherche und fiktiven Bestandteilen ist, erscheint Ende Oktober im Eigenverlag. Es ist als eBook, aber auch als gedrucktes Exemplar verfügbar und kostet 12 Euro.
- Auf dem Klappentext heißt es: „Im Mai 1918, kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, hungern die Menschen im Ruhrgebiet. 40 Jungen im Alter von sechs bis vierzehn Jahren werden zusammen mit ihrer Lehrerin für mehrere Monate aufs Land geschickt. Die Reise führt nach Posen ins östliche Deutsche Kaiserreich. Mit den widrigen Verhältnissen arrangieren sich die Kinder. Doch an einem spätsommerlichen Septembersonntag beginnt das Verhängnis.“
Also wollten Sie mehr herausfinden und haben den perfekten historischen Abriss dazu formuliert?
Das war etwas anders. 2015 nahm ich erstmals Kontakt zum Stadtarchiv auf. Ich habe mir Kopien von den Akten zu diesem schlimmen Vorfall kommen lassen – wie ein Privatmann das eben so kann. Ich stellte wieder fest: Da sind viele Details in den Akten, aber so richtig eine klare Antwort auf die Frage nach dem Warum, auch nach dem Wie gab es nicht.
Aus den Erzählungen aus meinem Umfeld hatte ich aber mitbekommen, dass man hier kolportierte, die Köchin in Polen habe die Castrop-Rauxeler Kinder umgebracht. Dieser Gedanke hat mich noch stärker angefixt. Ich habe Kontakt zu Historikern aufgenommen, habe zum Beispiel Hinweise bekommen, wie das Leben auf dem Ferienhof gewesen sein könnte und dass eine Köchin in Posen wohl kaum 31 Kinder umbringen würde. An der Stelle entschied ich: Ich schreibe eine Geschichte darüber, eine erfundene – wohlgemerkt – mit wahrer Basis.
Wie macht man das?
Nun, auf dem Grabstein ist zum Beispiel von „tragischem Geschick“ die Rede. Aber was heißt Tragik? Ich habe mich inspirieren lassen und das dann so konstruiert, dass zwar Menschen eine Rolle spielen, aber die Köchin nicht die Schuldige ist, sondern eher eine Gute in der Geschichte.
Gut, ausgedacht und wahre Begebenheit – dazwischen muss man dann vermutlich als Leser immer hin und her schwenken…
Es gibt viele Berührungspunkte mit der Wahrheit. In meinem persönlichen Umfeld besteht Kontakt zu der wahren Geschichte: Der Name der Lehrerin zum Beispiel, die die Kinder begleitet hat – Agnes Exner. Kein Allerwelts-Familienname. So erinnerte ich mich an Robert Exner, mein Schulkollege, ein Jahrgang höher.
Den habe ich für das Buch in Hannover ausfindig gemacht. Der sagte mir, das sei seine Großtante Agnes gewesen. Robert hat mir dann von seiner Familie erzählt. Agnes Exner starb Anfang der 70er-Jahre. Bemerkenswert ist: Sie blieb nach der Katastrophe von Posen in Castrop-Rauxel und arbeitete dort auch als Lehrerin weiter, obwohl sie angefeindet wurde.
Meine Mutter wohnt bis heute auf Schwerin, mit 81 Jahren. Eine gleichaltrige Freundin von ihr war Schülerin von Fräulein Exner. Von ihr erhielt ich einen handgeschriebenen Eintrag in einem Poesiealbum von Agnes Exner, mitsamt Foto. Beides ist in meinem Buch abgedruckt. Auch da stellte ich wieder fest: Diese Geschichte und ihre Protagonisten leben ja bis heute in Castrop-Rauxel weiter.
Als ich anfing, in meinem Bekanntenkreis zu erzählen, dass ich dazu recherchiere, erzählte mir die Ex-Frau meines Bruders, dass ihr Großvater bei dieser Fahrt hätte mitfahren sollen, aber vorher an Masern erkrankte. Aber dessen Bruder Josef Walter, der fuhr mit – und wurde vergiftet. Das war der letzte Auslöser, der mich veranlasst hat, dass ich die Geschichte fertig mache. Wohl wissend, dass ich einen wunden Punkt der Heimatstadt anpacke – auch wenn die Menschen heute darunter ja nicht mehr leiden.

17. September 1918: Der Trauerzug zur Beisetzung der durch Pilze vergifteten Jungen reichte von der Leonhardstraße bis zum katholischen Friedhof an der Wittener Straße in Obercastrop. © Archiv Brigitte Gaßner
Sie haben also viel recherchiert, viele Gespräche geführt – aber wie ist dann die Geschichte zu einem Text geworden?
Ich war zweimal im Kloster: Im Oktober 2020 und Ostern 2021 ging ich nach Eichstätt ins Benediktinerinnen-Kloster mitten in der Stadt. Ich habe mich dort zurückgezogen, zweimal zwei Wochen mit mir selbst in Klausur. Dort habe ich alles runtergeschrieben, wie es mir in den Kram passt. Ich bediente mich an den Details, die ich fand, also den echten Namen der Kinder, dem Familienstand ihrer Eltern, wo die Kinder damals gewohnt haben. Ich hatte Informationen zu den Lebensverhältnissen um 1918 zusammengetragen, wie es auf dem Gut oder in einer Ferienkolonie damals zuging, welche Spiele die Kinder damals spielten.
Interessant ist: Zur gleichen Zeit, als die Kinder starben, also am Mittwoch und am Donnerstag, nachdem sie am Sonntag die Pilze gesammelt hatten und sie am Montag zubereitet wurden, ereignete sich bei Schneidemühl 80 Kilometer nördlich ein Zugunglück, bei dem 30 Kinder aus Mönchengladbach ums Leben kamen. Mit diesen beiden tödlichen Unglücken befasst sich die Posener Zeitung, die man in Archiven bis heute einsehen kann, in einem gesammelten Artikel. Ein Artikel? Das ist doch unglaublich bei der Tragik, die damit zusammenhängt.
Die Kinder starben mittwochs und donnerstags, die Pilze aßen sie wohl montags. Wie kommt der Titel „Septembersonntag“ zustande?
Es war an einem Sonntag im September 1918 im Dorf Bierschlin der Kreisstadt Wreschen in der Provinz Posen, als die Kinder die Pilze fanden. Sie wurden erst am Montag zubereitet, aber die Katastrophe bahnte sich am Sonntag an.

Das Grab der pilzvergifteten Kinder auf dem Friedhof St. Lambertus ist heute auch eine Gedenkstätte für Sternenkinder und verstorbene Babys. © Tobias Weckenbrock
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.
