Auf dem Friedhof an der Wittener Straße liegt ein Gräberfeld, auf dem vor 100 Jahren 30 Kinder beigesetzt worden sind, die durch giftige Pilze starben. Das ist ihre Geschichte.

von Winfried Kurrath

Castrop-Rauxel

, 16.09.2018, 17:27 Uhr / Lesedauer: 4 min

Im September 1918 ereignete sich in der früheren Provinz Posen eine Tragödie, bei der 30 Jungen aus Castrop und ein Kind aus Dortmund-Marten durch eine Pilzvergiftung den Tod fanden. In einem Schaukasten auf dem Friedhof der Lambertus-Gemeinde an der Wittener Straße ist seit 2008 folgender nüchterner Bericht über das dramatische Geschehen zu lesen:

„Eine besondere Grabstätte auf dem Katholischen Friedhof der Kirchengemeinde St. Lambertus in Castrop-Rauxel, die mit einer traurigen Geschichte verbunden ist, besteht nun bereits seit 90 Jahren (inzwischen seit 100 Jahren, Anm.d.Red.). Anlass für diese Grabanlage gab eine Tragödie, die am 8. September im Jahr 1918 ihren Lauf nahm.“

Kinder waren im Zuge der Landverschickung in Polen

In den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges waren insgesamt 42 Jungen im Alter zwischen 7 und 14 Jahren mit ihrer Lehrerin im Zuge einer viermonatigen Landverschickung in Bierschlin nahe der Kreisstadt Wreschen in der früheren Provinz Posen untergebracht. Die Provinz liegt etwa 200 Kilometer von Frankfurt (Oder) entfernt im Mittel-Westen unseres Nachbarlandes. Sie sollten sich dort sowohl von den Kriegsumständen im Ruhrgebiet erholen, als auch vergütete Hilfstätigkeiten bei der Feldarbeit der bäuerlichen Familien erbringen, um den Eltern etwas Geld mitbringen zu können.

Nach einem Gottesdienst in Wreschen am Sonntag, 8. September 1918, gingen die Kinder ohne ihre Lehrerin zum Schulhaus, in dem sie untergebracht waren, zurück. Die Lehrerin begann bereits die Vorkehrungen der für Mitte September geplanten Rückreise nach Castrop in die Wege zu leiten. Auf dem Rückweg sammelten die Kinder in einem nahe gelegenen Wald Pilze und brachten sie der Köchin, welche immer die Mahlzeiten der Jungen zubereitete. Diese prüfte die ihr vorgelegten Pilze und befand sie für essbar. Damit genügend für eine große Mahlzeit zusammenkäme, sollten die Kinder noch einmal losziehen und weitere Pilze sammeln, was diese daraufhin auch bereitwillig taten.

Die Lehrerin wollte nicht, dass die Kinder die Pilze essen

Als die Lehrerin zurück bei den Kindern war und von dem geplanten Pilzessen erfuhr, war sie damit nicht einverstanden. Erst wenige Tage zuvor waren zwei Personen in der umliegenden Nachbarschaft durch eine Pilzvergiftung umgekommen. Die Köchin jedoch entgegnete, dass sie die Pilze kenne und auch nicht zum ersten Mal Pilzgerichte zubereitete. Die Lehrerin akzeptierte dies letztlich, auch da die Mehrzahl der Kinder die Pilzspeise essen wollte.

Am nächsten Tag bereitete die Köchin das Pilzgericht zu und bis auf sieben Kinder, die Lehrerin und die Köchin aßen alle davon. Bereits in der folgenden Nacht übergaben sich einige Kinder. Als die Lehrerin am nächsten Morgen davon erfuhr und sofort einen Arzt benachrichtigte, erschien dieser durch widrige Umstände jedoch erst am frühen Nachmittag.

Das Denkmal für Fehlgeburten und der pilzvergifteten Kinder auf dem Friedhof an der Wittener Straße.

Das Denkmal für Fehlgeburten und der pilzvergifteten Kinder auf dem Friedhof an der Wittener Straße. © Volker Engel

Laut eines Briefes des damaligen Castroper Schuldirektors diagnostizierte der herbeigerufene junge Militärarzt anscheinend zuerst nur eine Magenverstimmung und verabreichte den Jungen milde Medikamente mit denen auch eine Besserung des Befindens einherging. In einem Bericht, der von Wreschen aus verfasst wurde, ist stattdessen festgehalten, dass der Arzt bei ungefähr 30 Kindern sofort eine Pilzvergiftung feststellte und Lehrerin und Köchin die Kinder nach seinen Anweisungen pflegten – doch das half nicht.

In den frühen Morgenstunden des 11. September verstarben bereits zwei der Jungen. Der Arzt ordnete nun die sofortige Überführung aller Kinder, die von den Pilzen gegessen hatten, in das Krankenhaus in Wreschen an. Zwischenzeitlich starben jedoch weitere fünf Kinder an den Folgen der Mahlzeit. Seitens des Krankenhauses wurde am 12. September ein Spezialist aus Posen gerufen, der sofort Bluttransfusionen anordnete. Auch mit diesen letzten Maßnahmen konnten die Kinder nicht gerettet werden und von den 33 vergifteten Kindern überlebten letztlich nur zwei. Von den in der Zeit bis zum 13. September verstorbenen 31 Jungen waren 30 aus Castrop und einer aus Marten. Vier Elternpaare verloren durch dieses Unglück je zwei Söhne.

Der Trauerzug reichte vom Gymnasium bis zum Friedhof

Am 14. September 1918 fand die Überführung der Verstorbenen nach Castrop-Rauxel statt. Bereits in Wreschen nahm die gesamte Bevölkerung Anteil und begleitete den Trauerzug zum Bahnhof, die 31 Särge waren vollkommen von Kranz- und Blumenspenden bedeckt. Die Särge trafen einen Tag später im Laufe der Nacht in Castrop-Rauxel ein und wurden in der Aula des Realprogymnasiums (das heutige Adalbert-Stifter-Gymnasium an der Leonhardstraße) aufgebahrt.

Die Beisetzung wurde am Dienstag, 17. September, auf dem Katholischen Friedhof St. Lambertus Castrop vollzogen. Bis auf den aus Marten stammenden Jungen wurden alle Kinder in der gemeinsamen Grabstätte beigesetzt. Die Anteilnahme der Castroper Bürger war gewaltig, der Trauerzug reichte vom Gymnasium bis zum Friedhof. Menschen umgaben den Zug auf dem gesamten Weg zu beiden Seiten.

Das große Denkmal auf der Grabstätte wurde im Jahr 1922 aufgestellt, auf eine Einweihungsfeier wurde seinerzeit verzichtet, um die mit dem Unglück verbundenen Schmerzen nicht wieder neu aufkommen zu lassen.

Vor 100 Jahren die Begräbnisstätte für die durch Pilze vergifteten 30 Castroper Jungen, heute der Friedhof für die Sternenkinder.

Vor 100 Jahren die Begräbnisstätte für die durch Pilze vergifteten 30 Castroper Jungen, heute der Friedhof für die Sternenkinder.

Zum 50. Jahrestag des Grabmals wurde das Denkmal von der Stadt neu hergerichtet, wie dies auch im Jahr 2008, dem 90. Jahr nach der Tragödie, von der Kirchengemeinde St. Lambertus veranlasst wurde. Weiterhin erfuhr die Grabstätte in diesem Jahr eine Umgestaltung, der alte Efeu wurde entfernt und der Platz vor der Grabstätte komplett neu angelegt.

Die Tragödie von Wreschen in Posen hatte bis nach Berlin Auswirkungen. Die „Castroper Zeitung“ vom 16. September 1918 berichtete: „...Herrn Landrat Overweg, Dortmund. Ihre Majestät der Kaiser und König sowie die Kaiserin und Königin haben die Meldung von den so überaus traurigen Folgen von Pilzvergiftung, die zahlreiche hoffnungsvolle Ferienkinder aus Castrop dahingerafft hat, mit schmerzlichstem Bedauern entgegengenommen. Ihre Majestäten nehmen innigen Anteil an dem schweren Verlust der hart betroffenen Eltern und Angehörigen der Kinder und ersuchen Euere Hochwohlgeboren, den unglücklichen Familien allerhöchst ihr herzliches Beileid auszusprechen. – Auf allerhöchsten Befehl Geh. Kabinettsrat v. Berg.“

Zuschuss vom Landkreis Dortmund für das Grabmal

Selbstverständlich sollte die Grabstätte in Obercastrop einen würdigen Rahmen erhalten. Nach einer Ausschreibung im Jahre 1920 erhielt der Bildhauer Professor Friedrich Bagdons aus Dortmund für seinen Entwurf den Zuschlag. Die Ausführung des Grabmals in Grünsfelder Muschelkalkstein oblag dem Dortmunder Bildhauer Carl Fink. Veranschlagt waren 30.000 Mark, von denen der Landkreis Dortmund einen Zuschuss von 5374 Mark gewährte.

Eine halbrunde Wand trägt das Relief einer Christusfigur auf einer Wolke, an den sich innig zwei Kinder schmiegen. Darüber ein Schriftband im Stil der Zeit, der halbrunden Form folgend: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. Am Fuß der kaum noch lesbare Text: „Die Vaterstadt Castrop ihrem tückischen Geschick erlegenen Kindern“. Die seitlichen Blöcke mit den Namen der Opfer sind von Wind und Wetter ausgewaschen und nicht mehr zu lesen. Der Grabmalsockel dient heute zur Ablage von Engelsfiguren, Lichtern, steinernen Herzen, Grableuchten, Blumenvasen. Die neuen stillen Zeichen der Trauer; christliche Symbole sind selten.

Heute die letzte Ruhestätte der Sternenkinder

Das Kinder-Gräberfeld auf dem katholischen Friedhof in Obercastrop hat inzwischen einen eigenen, schlichten Gedenkstein für Sternenkinder. In den von dem Castrop-Rauxeler Steinmetz Denis Prosenc geschaffenen und gestifteten Marmorblock mit einem aufgesetzten Sternenhimmel aus grauem Granit ist ein Zitat des Propheten Jesaja eingemeißelt: „Gott spricht: Siehe, ich habe Dich eingezeichnet in meine Hände. Ich vergesse Dich nicht.“

Dieser Beitrag von Winfried Kurrath wurde erstmals im Heimatblatt „Kultur und Heimat“ aus dem Jahr 2013 veröffentlicht. Winfried Kurrath stellte den Text anlässlich des 100. Jahrestags der Tragödie zur Verfügung.
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