Den Simon-Cohen-Platz in der Altstadt kennt wohl jeder Castroper und jede Castroperin. Und auch der Marktplatz mit seinen außergewöhnlichen, architektonisch herausragenden Gebäuden im Jugendstil ist weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Was viele nicht wissen: Jüdische Familien prägten Castrop, sie haben Spuren in der Stadt hinterlassen – und das bis heute.
Die ersten Juden siedelten sich wohl Ende des 17. Jahrhunderts in Castrop an, so erzählt es Stadtarchivar Thomas Jasper während einer Führung durch die historische Altstadt. „Zu der Zeit war Castrop noch ein kleines Ackerbürgerstädtchen“, sagt der Historiker.
Berend Levi und seine Familie gelten als die ersten Juden Castrops. Er war Tabak- und Viehhändler, außerdem war er als Pfandleiher und Geldverleiher tätig. Die Familie begründete 1738 auch den Friedhof.
1818 waren von 646 Einwohnern in Castrop 35 jüdischen Glaubens. In Mengede, das damals noch zum Amt Castrop zählte, lebten weitere 7 Juden. Bodelschwingh und Deusen gehörten ebenfalls zum Synagogenbezirk. 1824 lebten 62 jüdische Bürgerinnen und Bürger in der Stadt. 1845 entstand die Synagoge am heutigen Simon-Cohen-Platz. 1902 waren von 14.447 Einwohnern 128 Juden. 1930 sollen es laut Stadtarchivar um die 200 gewesen sein.
Der Nationalsozialismus und die Verfolgung und systematische Ermordung dieser Menschen beendete das jüdische Leben in Castrop-Rauxel. Heute erinnern Stolpersteine an die Schicksale der Verfolgten, derer, die in Konzentrationslagern starben.

Stolpersteine in der Altstadt
Am Marktplatz sind viele messingfarbene Stolpersteine ins Pflaster eingelassen. Sie befinden sich vor den prächtigen Häusern mit Jugendstilfassade. Dort, wo heute Juwelier Zimmer seine Goldschmiede-Arbeiten verkauft, lebte einst Familie Cohen. David (geboren 1878) war Schuhverkäufer, die Kinder gingen auf das Adalbert-Stifter-Gymnasium. Erich (1916), Richard (1917) und Werner (1911) flohen offenbar rechtzeitig vor dem Nazi-Terror.
Die Stolpersteine, die an ihr Schicksal erinnern, geben Auskunft: „Flucht 1933 / Buenos Aires / überlebt“. Oder: „Flucht 1937 / USA / überlebt“. Und für Werner Cohen: „Flucht 1937 / Südafrika / überlebt“.
Luise und David Cohen indes wurden deportiert. 1942 war das – danach verliert sich ihre Spur in Zamosc, einem Ort in Polen, in dem zu dieser Zeit ein Juden-Ghetto existierte.
Wenige Schritte weiter wieder eine Handvoll Stolpersteine, gleich vor den Eingängen der Modegeschäfte Street One und Tom Tailor. „Am Beispiel der Familien Meyer und Weinberg zeigen sich alle Facetten des Leids“, sagt Archivar Thomas Jasper.
Ein Schicksal, das besonders berührt, ist das von Jonathan Meyer. Er war erst knapp zwei Jahre alt, als er im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. „Vermutlich wurde er auf den Armen seiner Mutter in die Gaskammer geschickt“, sagt Historiker Jasper. Dieser Stein sei es auch, der die Schülerinnen und Schüler am meisten berühre, die er regelmäßig auf die Spuren jüdischen Lebens durch Castrop schickt.
Pogrom: Feuerwehr tat wenig
Weiter zum ehemaligen Standort der Synagoge in Castrop. Es gibt nur zwei Aufnahmen des unscheinbaren Gebäudes, an dessen Eingang einst zwei Pappeln standen. Auch eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Innern existiert.
Eigentlich sei die Synagoge ein Fachwerkhaus gewesen, später verkleidete man sie mit Stein. Es gab einen Betraum, ein Klassenzimmer und eine Lehrerwohnung. Später auch eine Apsis, der Bereich, in dem die Thora gelagert wurde.
„Einen Rabbiner gab es hier nicht“, erklärt Jasper. Stattdessen übernahm ein Lehrer die Kantorfunktion. Ein kürzlich fertiggestellter Film von Stephan Aschenbach blickt auf die Geschichte der Synagoge.
1922 habe man hier noch ein großes Volksfest gefeiert, erzählt Historiker Jasper. „15 Jahre später dann der Horror.“ Er meint die Novemberpogrome von 1938, als im gesamten deutschen Reich Synagogen brannten und jüdische Geschäfte demoliert wurden. SA-Männer aus Herne und Castrop steckten die Synagoge in Brand, die Feuerwehr kümmerte sich nur darum, dass die Flammen nicht auf benachbarte Gebäude übersprangen.
Drei Tage nach der Brandstiftung wurden die Reste der Synagoge abgerissen. 1939 musste das Grundstück an die Stadt veräußert werden. Heute trägt der Platz den Namen von Simon Cohen, einem jüdischen Bürger, Mitglied der Zentrumspartei, Begründer der Feuerwehr und Mitglied vieler Vereine in Castrop. Er wurde am 25.12.1849 an der Münsterstraße 14 geboren und starb 1929.
Die Stadtführung durch das jüdische Castrop endet auf dem Friedhof. „Hier stand früher ein Grab neben dem anderen“, erklärt Jasper. Auch hier wütete der NS-Terror. Gräber wurden geschändet. Grabsteine als Baumaterial oder Wegeplatte genutzt.
Heute stünden knapp 15 Prozent der einstigen Grabsteine an ihrem ehemaligen Platz. „Was man nicht zuordnen konnte, steht am Rand“, sagt Jasper und zeigt auf Grabsteine an der Friedhofsmauer.

Bestattungen finden auf dem Friedhof nicht mehr statt. Die Gräber, die es noch gibt, werden nicht eingeebnet. Die jüdische Bestattungskultur weicht von der auf christlich geprägten Friedhöfen ab. Und noch etwa ist anders: Thomas Jasper schließt das Tor zum Friedhof wieder ab, nachdem die Führung beendet ist. Zur Sicherheit. Denn Schändungen, antisemitische Parolen und Symbole sollen der Vergangenheit angehören.
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