Das Feindbild der „faulen Arbeitslosen“ Was ist in Castrop-Rauxel dran an dieser Erzählung?

Die Mär der faulen Arbeitslosen – was ist dran an diesem Feindbild?
Lesezeit

Mitte Januar in Berlin. Der Finanzminister Christian Lindner (FDP) steht vor einer wütenden Wand aus Landwirten. Sie hupen, pfeifen und buhen ihn aus, während Lindner „Bürokratie und ‚ideologische Bevormundung‘“ anklagt und erklärt, wie er den Landwirten – die seit Wochen auf die Barrikaden gehen – entgegenkommen will. Mitten in seiner Rede versucht der FDP-Politiker dann den Zorn der Landwirte auf eine ganz andere Gruppe zu lenken: „Es ärgert mich, dass ich vor Ihnen als dem fleißigen Mittelstand über Kürzungen sprechen muss, während auf der anderen Seite in unserem Land Menschen Geld bekommen fürs Nichtstun.“ Er verkündet Einsparungen beim Bürgergeld und sagt weiter: „Denn wir dürfen es nicht länger tolerieren, wenn Menschen sich weigern, für ihr Geld zu arbeiten.“

Für diese Einlassung wurde Lindner scharf kritisiert. Die Chefin der Linken, Janine Wissler, erklärte: „Ein Minister, der keinen Vorschlag macht, aber gegen Erwerbslose und Geflüchtete hetzt, ist als Minister untragbar.“ Die Kerbe, in die Lindner schlägt, ist aber Thema. Er nährt die Erzählung von Bürgergeldempfängern, die jede Arbeit ablehnen und sich auf Kosten des Staates ein laues Leben machen. Zeit, sich das Thema genauer anzuschauen.

Keine Statistik zu Verweigerern

Wie groß ist das Problem der Job-Verweigerer in Castrop-Rauxel? Eine genaue Zahl, wie oft Jobs abgelehnt werden, die gibt es nicht, wie Thomas König erklärt. Er ist Pressesprecher des Jobcenters im Kreis Recklinghausen. Man könne sich aber trotzdem einen Überblick darüber verschaffen, wie groß das Problem ist. Zur Einordnung aber zunächst ein Blick auf die Zahlen.

Im September 2023 haben in Castrop-Rauxel 7502 Menschen Bürgergeld bekommen. Diese Gruppe kann man aufteilen in Erwerbsfähige und Nicht-Erwerbsfähige. Nicht-erwerbsfähig sind zum Beispiel Kinder oder Menschen, die aus anderen Gründen nicht arbeiten können. Etwa jeder Dritte (2192 Personen), der Bürgergelder bekommt, ist nicht erwerbsfähig.

Eine sehr gemischte Gruppe

Jetzt könnte man meinen, dass der Rest, also 5255 Personen „Geld bekommen fürs Nichtstun“, wie Christian Lindner es formulierte. Aber so einfach ist es nicht. Bürgergeld bekommt nach dem Sozialgesetzbuch, wer „hilfebedürftig“ ist. Also auch Menschen, die arbeiten – bei denen das Geld aber nicht zum Leben reicht – können Anspruch auf Bürgergeld haben. Zu den 5355 Leuten gehören auch Jugendliche, die über 15 sind, aber noch zur Schule gehen, Menschen, die Angehörige pflegen oder Kinder unter drei Jahren betreuen. Diese Personen – etwa 1500 Erwerbsfähige – werden nicht aktiv vermittelt, sie haben einen Grund, nicht in den Arbeitsmarkt zu gehen.

Es bleiben 3800 Erwerbsfähige, die vom Jobcenter vermittelt werden müssen. Wie kann man aber nun einschätzen, wie oft Leute aus dieser Gruppe Menschen einen Job ablehnen?

Wenn ein Bürgergeld-Bezieher mit dem Jobcenter vereinbart, dass er ein bestimmtes Angebot annimmt – und er es dann nicht macht – kann es Sanktionen geben. Auch wenn Schreiben nicht eingereicht werden oder Menschen nicht zu Terminen kommen, kann das Geld gekürzt werden. Leistungsminderung heißt das dann. Im September 2023 gab es laut Thomas König acht Menschen, denen die Leistungen gekürzt wurden: „Darunter war in keinem Fall eine Leistungsminderung aufgrund der Weigerung, eine Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen.“

Individuelle Probleme

In der Statistik taucht für den Monat September 2023 also niemand auf, der einen Job abgelehnt hat und deswegen weniger Geld bekommen hat. Thomas König erklärt aber, dass es trotzdem solche Fälle gibt. Oft haben die Menschen dann aber gute Gründe, schildert er: „Da sind wir natürlich drauf angewiesen, dass die Menschen sich öffnen. Gründe sind oft Versagensängste, die Leute sind mit der Veränderung überfordert.“ In solchen Fällen werde das Geld nicht gekürzt: „Da merken wir dann, dass die Person offensichtlich noch eine andere Hilfe braucht.“

Dass es große Gruppen von Menschen gibt, die Bürgergeld beziehen und nicht arbeiten wollen, kann Thomas König nicht unterschreiben. Warum Leute nicht direkt in den Arbeitsmarkt gehen, hat unterschiedliche Gründe: „Die Problemlagen sind sehr vielfältig, weil die Menschen ganz verschieden sind.“

Nicht alle wollen kooperieren

Natürliche gebe es auch unter den Kunden des Jobcenters schwarze Schafe, betont König: „Es gibt Fälle, da kommen Sie mit Kooperation nicht weiter.“ In solchen Fällen kann man dann das Bürgergeld kürzen, erst um 10, dann um 20 und final um 30 Prozent. Eine Bestrafung sollen die Kürzungen aber nicht sein. König: „Es geht darum, jemanden zu einem bestimmten Verhalten zu bringen.“ Bevor gekürzt wird, müssen die Betroffenen allerdings noch mal die Chance bekommen, sich zu äußern.

Im September 2023 wurden 28 Leute eingeladen, ein Versäumnis zu erklären. 20 Personen hatten einen guten Grund, also zum Beispiel Krankheit oder einen Trauerfall in der Familie. Nur acht konnten sich nicht erklären – ihre Leistungen wurden deswegen gekürzt.

Förderung und Finanzierung

Ob es härtere Strafen für Jobverweigerer braucht, das will Thomas König nicht bewerten: „Wir sind die ausführende Behörde, wir halten uns ans Gesetz.“ Viel wichtiger ist ihm ein ganz anderer Punkt. Das Jobcenter habe zwei große Aufgaben – die Existenzsicherung und die Vermittlung in Arbeit. Während das Geld für die Existenzsicherung zuverlässig bereitsteht, sieht das bei der Vermittlung anders aus. Das Jobcenter sei auf den jährlichen Haushalt angewiesen, langfristig planen könne man damit natürlich nicht. Fördermaßnahmen, Schulungen, all das müsse man aber eigentlich langfristig planen. Thomas König: „Wir stellen uns für das Jahr auf ein eingeschränktes Budget ein, das erschwert unsere Arbeit.“

Und es gibt ein zweites Problem, das Menschen, die Bürgergeld bekommen, auf dem Arbeitsmarkt haben: „Alle Qualifizierungsmaßnahmen helfen uns nicht weiter, wenn Arbeitgeber solche Menschen dann nicht einstellen.“ Menschen mit „besonderen Biografien“, nennt Thomas König sie.

Komplexes Vermittlungsgeschäft

Stefan Bunse ist Geschäftsstellenleiter der Agentur für Arbeit Castrop-Rauxel. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt sei aktuell nicht leicht: „Aktuell stellen Unternehmen wegen der Unsicherheiten in der Weltpolitik, gestiegener Preise und teilweise angespannter Märkte zurückhaltender ein. Das geht dann schnell zulasten der ungelernten Arbeitskräfte. Fachkräfte dagegen werden weiterhin gesucht.

Heute gibt es in Castrop-Rauxel weniger Arbeitslose als vor zehn Jahren. Berufe verändern sich schnell und so sei es auch immer schwieriger, Menschen in diese Berufe zu vermitteln, erklärt Stefan Bunse: „Das Vermittlungsgeschäft ist viel kleinteiliger und die Problemlagen komplexer geworden. Hinzu kommt: Der Arbeitsmarkt und die Berufe sind im ständigen und immer schnelleren Wandel.“ Gerade die Digitalisierung sei eine große Herausforderung: „Hier die Stelle, dort der Bewerber, das funktioniert deshalb immer seltener. Das Jobcenter und wir müssen da jeden Einzelnen individuell betrachten und fördern. Das gelingt nicht immer.“

Ein einzelnes Projekt oder einen politischen Hebel, mit dem man das Problem lösen kann, gebe es nicht: „Pauschalaussagen bringen uns nicht weiter. Wir machen uns ein Bild von dem einzelnen Menschen. Wo steht er, welche Ansatzmöglichkeiten gibt es und was braucht es, um die Wahrscheinlichkeit auf einen zukunftssicheren Arbeitsplatz zu erhöhen?“

Thomas König vom Jobcenter sieht allerdings noch eine ganz andere Stellschraube, an der man drehen könnte – die Bildungspolitik: „Eine gute Schul- und berufliche Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.“

Castrop-Rauxeler Unternehmer Michèl Dichter zur 4-Tage-Woche: „Das ist viel zu kurz gedacht“

„Und wir stehen gerade erst am Anfang“: Arbeitsagentur-Chef Stefan Bunse über Personalmangel

Nicole Smietana (46) aus Castrop-Rauxel bekommt Bürgergeld: „Ich bin nicht arm“