Ickern: Großer Verkehrslärm, aber noch größerer Zusammenhalt
Stadtteilcheck
Ickern ist der größte Stadtteil Castrop-Rauxels, wenn man die Einwohnerzahl zur Grundlage nimmt. Getrennt ist er durch die laute A2. Zufrieden sind die Ickerner trotzdem mit ihrem „Dorf“.
Susanne Jupe ist Ickernerin durch und durch. Die 55-Jährige lebt am Stahlskamp in Ickern-End, also nordöstlich der Autobahn A2. 300 Meter Luftlinie trennt ihre Doppelhaushälfte von einer der wichtigsten Ost-West-Verbindungen Mitteleuropas; die Ickern in zwei Hälften teilt; die man hört und sieht; die viele Menschen als störend wahrnehmen. Die meterhohen Wände, die den Straßenlärm abhalten sollen, sind optisch kein Gedicht.
Aber auch akustisch sind sie nicht unproblematisch. Der Lärm schaukelt sich hoch und breitet sich dann weit aus. Bis zu den Jupes. Susanne Jupe blendet die Verkehrsbelastung, die im Mittel mit 7 Punkten bewertet wird, aus, wenn sie mit verschränkten Armen auf ihr Gartentörchen gelehnt ist. So war das hier früher, an der Straße, in der Bergarbeiter-Siedlung. Da waren die Wände nicht da, da stank die Emscher zum Himmel. Aber das, was ihre Gartenzaun-Geste ausdrückt – es ist geblieben: Ickerner halten zusammen.
Ickern ist nicht nur der größte Stadtteil Castrop-Rauxels, er ist auch der mit der höchsten Beteiligung bei unserem Stadtteilcheck: Mehr als 250 Bewohner gaben ihre Einschätzung ab. Sie besagt: Ickern ist lebenswert. Die Lebensqualität wird höher bewertet als in der gesamten Stadt im Durchschnitt. Familienfreundlichkeit, Radfahren, Seelsorge, Gastronomie, Möglichkeiten für Senioren, Wohnen: Überall liegt Ickern über dem Mittelwert. Und bei der Nahversorgung erreicht der Stadtteil sogar den Bestwert.
Er wird als lebenswert empfunden. „Ickern for live“ oder „Im Großen und Ganzen lebe ich gern hier“ heißt es in Antworten unserer Umfrage. Und: „Es gibt immer was zu verbessern. Aber ich möchte nicht woanders leben.“
Marc Frese, der sich in den vergangenen Jahren zu einer Art ehrenamtlicher Stadtteilförderer aufschwang und mit dem Verein „Mein Ickern“ seither den Veranstaltungskalender maßgeblich prägt, sagt zu den Entwicklungen der vergangenen Jahre: „Ganz klar: Es hat sich ein Wir-Gefühl entwickelt.“ Die Weihnachtsbeleuchtung, das Familienfest am Ende der Sommerferien, die Maibaumaktion: kleinere bis ganz große Bestandteile des Stadtteils. „Der Wert dieser Aktionen für den Stadtteil ist natürlich nicht messbar“, so Frese, „aber sie werfen ein positives Gesamtbild auf Ickern.“
Susanne Jupe, zweifache Mutter erwachsener Kinder und seit anderthalb Jahren Oma, bestätigt es, wenn sie sagt: „Ickern ist schön. Weil es hier alles gibt. Hier ist es lebhaft, hier hast du jede Altersgruppe. Man kennt sich.“ Ickern sei für sie wie ein Dorf. Und in Ickern-End sei der Zusammenhalt, den sie damit anspricht, noch intensiver.
Als sie ihren Mann Herbert, einen Bergmann aus Waltrop, heiratete, stand zur Debatte, nach Waltrop zu ziehen. Aber die Susanne mit dem Mädchennamen Hüttemann gehörte ja hierher. Hüttemann wie das Reisebüro ihrer Eltern an der Emscherstraße mit Lotto, Schreibwaren und Zeitungsverkauf. „Ich habe als sechsjähriges Mädel schon die ‚Bild‘ verkauft“, sagt Susanne Jupe. Als die Wohnort-Entscheidung für ihre eigene Familie anstand, sagte sie, sie wolle nicht weg. Heute heißt es: „Entweder ins Ausland oder gar nicht.“
Dabei ist hier nicht alles schön. In unserer Umfrage nannten viele Sauberkeit und den Straßenverkehr als Mankos – und dass es zu wenig Angebote für Kinder und Jugendliche gebe. Dass Bürgersteige unpassierbar seien, so wie der zwischen Emscher und A2 an der Uferstraße, den Susanne Jupe meint, wenn sie sagt: „Da rumpelt es!“ Sie habe das vor Monaten über die CAS-App bemängelt, eine Antwort bekommen, dass hier die Emschergenossenschaft zuständig sei. „Ich hoffe, dass sich da bald etwas tut.“
Eine über 70-jährige Leserin spricht von „Gefahrenstufe Rot“, mit Rollator und Rollstuhl komme man nur auf der Straße weiter. Ein jüngerer Teilnehmer meint, dass die Uferstraße ein paar Meter weiter am K+K kaum zu überqueren sei. „Lebensgefährlich!“, findet er. Und in Sachen wilder Müll, Sauberkeit und gepflegter Grünanlagen sei Ickern, auch auf Gehwegen, problematisch – wozu wohl der Sparhaushalt der Stadt beiträgt, aber auch das Verhalten mancher Hundebesitzer.
Nahversorgung: Ickern erzielt hier 10 Punkte. Mehr geht nicht, und das Ergebnis liegt deutlich über dem stadtweiten Durchschnitt (8 Punkte). „Der Stadtteil hat sich positiv entwickelt“, schreibt ein Teilnehmer der Umfrage, und bezieht das auf die Marktplatzbebauung mit Ärztehaus und Supermärkten. „Optimal“, sagt auch Susanne Jupe: Eisdiele, Kneipen, dazu Geschäfte, Ärzte und Apotheken. „Es ist alles da im Dorf“, meint sie. Bürgermeister Rajko Kravanja, selbst ein Ickerner Junge, sagt: „Wir haben Geschäftsleute, die aus anderen Ecken kommen, sich hier ansiedeln und sagen: Hier sehen wir Potenzial, hier ist was los, hier tut sich was.“
Lebensqualität: 9 von 10 Punkten, einer mehr als im Stadt-Mittel: Ickerner scheinen grundsätzlich zufriedener zu sein als Castrop-Rauxeler insgesamt. Woran das liegt? Vielleicht an der (Bergbau-)Tradition vieler Menschen hier? „Ich lebe in einer familiären Siedlung. Man grüßt und kennt sich, man hilft sich mit Werkzeug aus, mit Steinen – mit allem“, sagt Susanne Jupe. Es gibt wohl ein Ickern-Gefühl. Dazu kommen Respekt für den Verein „Mein Ickern“, der in einigen Antworten erwähnt wird, und die Grüne Oase. Geschätzt werden die Naherholungsgebiete nach Norden. Und das Panigyri-Fest in der Agora: das Ereignis, wo man sich als Ickerner Jahr für Jahr trifft, so Susanne Jupe.
Familienfreundlichkeit: Es gibt sechs Kitas verschiedener Schwerpunkte, eine siebte wird am Meisenweg gebaut. Es gibt Parks, das einzige Freibad der Stadt und Spielplätze, über deren Zustand manch einer kritische Worte findet. Aber der in den Aapwiesen ist ein Beispiel für eine Spielfläche in Top-Qualität.
Wohnen, Gastronomie und Seelsorge: Bei allen drei Punkten liegt das Mittel um einen Punkt über dem der gesamten Stadt.
Hier gibt es zwei Meinungen
Radfahren: Hier schneidet Ickern mit 8 Punkten besser ab als die Gesamt-Stadt. Aber: Es gibt zahlreiche kritische Anmerkungen: Radfahren auf der Ickerner Straße sei lebensgefährlich wegen verblassender Markierungen, der Randstreifen-Parkplätze und des Verkehrs auf der engen Straße. Zu wenig Radabstellplätze gebe es auch. Aber: „Mit dem Rad oder zu Fuß ist in Ickern alles erreichbar“, so eine Teilnehmerin zwischen 50 und 70 Jahren.
Grünflächen: Bei der Auswertung wundert man sich: Viele erwähnen die Grüne Oase und den Hundeplatz als gutes Beispiel – doch im Vergleich zum stadtweiten Mittel liegt Ickern mit 8 Punkten einen Punkt zurück. Das kann mit den Säufer-Treffpunkten zum Beispiel im eigentlich schönen Volkspark zusammenhängen, die als Problem-Orte auch vom Ordnungsamts-Außendienst erkannt wurden.
Grundsätzliche Benachteiligung: Ein Teilnehmer merkt an, dass Ickern vernachlässigt werde gegenüber den teuren Prestigeprojekten am Altstadt-Markt. Und ein anderer: „Der Bürgermeister versprach in seinem Wahlkampf, er würde für ein sauberes Ickern sorgen. Leider ist es beim Versprechen bis heute geblieben.“
Wenn Susanne Jupe über ihren Zaun schaut, sieht sie ihr Ickern(-End), wie sie es mag. Ihre Tochter Stella wohnte einige Jahre in der Altstadt, wo sie arbeitet. Sie heiratete und zog mit ihrem Mann Jonas, einem Recklinghäuser, und dem Sohn Karl (19 Monate) zurück nach Ickern an den Vinckeweg. Ins sanierte Reihenhaus einer Arbeitersiedlung. Hier hilft man sich.
Stadtteilchronik
Als Ickern noch Ichorne hieß
Die Straßenbahn vor dem Pavillon am Ickerner Marktplatz und der St.-Antonius-Kirche. Rechts im Bild ist das Verwaltungsgebäude zu sehen.
Der Name Ickern trat erstmals im Jahr 1220 in der Limburger Vogteirolle auf. Es ging damals um fünf Bauernhöfe unter dem Namen „Ichorne“. 1827 hatte Ickern 262 Einwohner in 35 Häusern, 1960 waren es fast 23.000. Entscheidend war der Bergbau, der mit Victor 3/4 im Jahre 1905 begann und 1908 die ersten Kolonien (Vinckestraße, Heinestraße, Ruprechtstraße) mit sich brachte. Im Zuge der Eingemeindung 1926 wurde Ickern ein Stadtteil von Castrop-Rauxel und trennte sich von Kirchspiel und Gericht Mengede ab.
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.