Es ist ein heller, sonniger Morgen mit einer klirrenden Kälte. Das knallrote Haus auf der Bockenfelder Straße 237 fällt sofort auf. Was sich hier hinter den Wänden abspielt, lässt sich auf den ersten Blick nicht vermuten. Die meisten Menschen, die hier einziehen, kommen lebend nicht mehr raus. Trotzdem, wie ein Hospiz wirkt das modern designte Gebäude aber nicht. Und das ist Absicht.
„Wir haben hier keine Patienten, wir haben Gäste“, sagt Elisabeth Grümer bestimmt. Die Hospizgründerin erklärt weiter: „Wir sind Gäste auf der Erde und das ist die letzte Station.“ Schon beim Betreten des Hauses ist die Atmosphäre spürbar anders: warme Farben an den Wänden, sanfte Musik strömt aus einem der vielen Räume in den Gang.
Im Flur hängen zwei aus Pappe gebastelten Bäume an der Wand, auf ihren Ästen sind Fotos der ehrenamtlichen Helfer geklebt. „Alles ist etwas großzügiger, kein Krankenhauscharakter“, sagt Grümer. Das ist ihr wichtig. Mit festen Schritten schreitet die Castrop-Rauxelerin voran in einen für sie ganz besonderen Ort.
Tanzende Regenbögen
„Sieht das nicht schön aus? Schauen sie mal, wie das Licht der Sonne durch die Fenster reflektiert wird.“ Und tatsächlich, ein bunter Regenbogen des Lichts tanzt die Wand entlang und taucht den Raum der Stille, durch die Wand hohen Kirchenfenster in einen magischen Rückzugsort. Die Bewohner, oder auch Gäste, wie Grümer sie nennt, kommen, um zu sterben. Der Raum der Stille ist für sie und ihre Angehörigen ein Ort der Reflexion und Ruhe.
„Wenn sie hier so auf der Bank sitzen und sich das schöne Farbenspiel angucken, hilft das natürlich auch beim Abschalten.“ Stolz ist in den Augen von Elisabeth Grümer zu sehen, sie dreht sich um und zeigt auf die Wand neben der Tür. Eine braune Orgel aus Holz steht dort. „Die Orgel haben wir geschenkt bekommen und wenn jemand spielen möchte, dann kann er das natürlich gerne tun.“ Das Angebot haben laut Grümer schon mehrere Gäste angenommen. Es geht fröhlich zu im Hospiz und wenn die melodischen Orgelklänge durch den Gang hallen.
Wind und Regen spüren
Auch die Patientenzimmer wirken nicht wie in einem Krankenhaus. Vielmehr erinnert der Ausblick und die Anordnung der Räume von außen eher an ein Ferienhaus in Holland. Jedes Zimmer hat eine eigene Terrasse. Für die Gäste eine wichtige Eigenschaft. „Wenn jemand nicht mehr aus dem Bett raus kann, kann man das ganze Bett nehmen und rausfahren“, erklärt Grümer. „Wir haben so ein kleines Vordach, sodass man das Bett so schieben kann, dass der Gast unterm Dach ist, aber auch nochmal einen Sonnenstrahl, Regentropfen und den Wind spürt. Das sind alles Sachen, von denen man Abschied nehmen möchte.“ Auch hier macht sich der Unterschied zu einem Krankenhaus bemerkbar.
„Wenn ich von der Welt gehe, will ich nicht im Zimmer liegen und gegen die Wand starren, sondern ich möchte ja von dieser Welt Abschied nehmen, egal was es ist.“ Um den Sterbenden den Abschied zu erleichtern, gibt es keine festen Besucherzeiten. Angehörige können die Bewohner rund um die Uhr besuchen und auch im Zimmer mit übernachten. Tiere sind im Hospiz ebenfalls willkommen. „Eine Katze oder einen Hund darf man bei uns auch mitbringen, weil auch davon will ich ja Abschied nehmen.“ Einzig ein Gesundheitszeugnis wird vom Haustier benötigt.

Mit Liebe selbstgebastelt
Zurück auf dem Gang stehen die beiden Ehrenamtlerinnen Elvira Nöthe und Erika Jaguttis mit dem neuen Sozialarbeiter Michael Erbe vor dem „Geschenkeshop“ und unterhalten sich. „Das sind unsere Ehrenamtler, die unseren Tisch bestücken“, erklärt Grümer. Der „Geschenkeshop“ ist nämlich ein Tisch voller selbstgebastelten Kostbarkeiten von Erika und Elvira. Selbstgenähte Brustkrebskissen reihen sich an Leseknochen, und selbstgebastelten Grußkarten, in der Mitte des Tischs steht ein Dinosaurier, der Münzen sammelt. Die Einnahmen gehen ans Hospiz.
Brustkrebskissen und Kunst
„Für Brustkrebspatienten haben wir die speziellen Kissen genäht, die werden unter die Achsel gelegt, damit der Arm nicht auf der Narbe aufliegt“, erklären die beiden DIY-Frauen. „Ja, und dann haben wir das mal gesehen mit den Leseknochen und dann hat erst die Frau Jaguttis genäht und dann konnte sie nicht mehr und dann habe ich das übernommen“, erzählt Elvira Nöthe. „Jetzt nähen wir die und die gehen weg wie warme Semmeln“, die beiden Damen lachen herzlich.
In den Händen hält Michael Erbe ein selbstgemaltes Bild. „Das habe ich mit einem Gast gemalt, zuerst wusste er gar nicht, was er malen sollte“, Elvira Nöthe schmunzelt. „Schauen sie mal aus dem Fenster, habe ich dann zu ihm gesagt, was sehen sie da? Und dann hat er losgelegt und ein Haus gemalt, da waren dann so Knubbel dran. Am Haus sind aber keine Knubbel dran, habe ich zu ihm gesagt – das ist mein Bild, sagt er“, Nöthe lacht. Ihr Gesicht leuchtet regelrecht auf, wenn sie von den Bewohnern spricht. „Als das Bild fertig war, hat er dann meinen Namen draufgeschrieben.“
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hospizes ist es eine Lebensaufgabe, den Raum für besondere Momente zu schaffen und zu bewahren. „Mit dem Wünschewagen bin ich, mit einem Gast, ein letztes Mal auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, das war sein seligster Wunsch“, erzählt Jaguttis. „Eine andere Dame wollte noch ein letztes Mal ihr Brautkleid anziehen, das machen wir gerne für unsere Gäste möglich.“ Noch ein letztes Mal zum Strand nach Holland oder ein Stadionbesuch bei BVB. Genau dafür ist der Wünschewagen da, ein Fahrzeug, mit dem den Bewohnern, die letzten Wünsche erfüllt werden.
„Jeder Moment zählt“
Das kommt auch bei Angehörigen, wie Sigried Stolle, gut an. Sie ist heute zum zweiten Mal hier und besucht eine alte Freundin. „Seit den 70er Jahren sind wir schon befreundet. Als ich erfahren habe, dass sie hier liegt, ist mir das sehr nahe gegangen.“ Siegried wirkt bedenklich, langsam lässt sie sich auf die rote Ledercouch auf dem Gang sinken. Dass ihre Freundin in einem Hospiz ist, hat sie noch nicht verarbeitet. „Frau Stolle muss sich erstmal zurechtfinden“, erklärt Grümer.
„Ich hatte vorher ein bisschen Angst, was mich erwartet, in welcher Verfassung sie ist“, Siegfrieds Lippe zittert leicht. Ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen. „Hospiz ist so was Endliches, da musste ich erstmal schlucken. Das ist schon was anderes als jemanden im Krankenhaus zu besuchen. Da kommt man schnell wieder nach Hause. Hospiz ist so endgültig.“ In ihren Händen hält sie ein kleines Buch mit Kurzgeschichten „Jeder Moment zählt“ ist der Titel. Trotz der Umstände ist Siegried Stolle positiv überrascht. „Die Atmosphäre ist hier ganz anders, wie ich es mir vorgestellt habe.“ Sie sammelt ihre Kräfte und steht auf.
Die letzte Mahlzeit
Kraft brauchen auch Hauswirtschafterin Angeliqué Gadacz und Koch Raphael Täschner manchmal. Nachmittags stehen die beiden in der Küche und bereiten alles für die nächste Schicht vor. „Wenn junge Menschen sterben, ist es immer etwas schwierig“, erzählt Gadacz.
„Ansonsten ist es eine sehr dankbare Arbeit.“ Raphael Täschner pflichtet ihr bei. „Jeder Tag ist ein schöner Tag, weil wir Gäste glücklich machen.“ Gekocht wird hier frisch, nach den Wünschen der Gäste. „Wir bemühen uns jeden Tag zu kochen, als wäre es die letzte Mahlzeit.“
Remoulade und Waffeln
Die Bewohner danken es ihnen, auch wenn sie selber nicht mehr essen können. „Es gibt natürlich Gäste, die sagen, ich möchte gerne eine Roulade essen, aber sie können die Roulade gar nicht essen“, erzählt Hospizleiterin Marlena Pöhls. Dann greifen Raphael und Angeliqué in ihre Trickkiste.
„Viele freuen sich auch, wenn sie nicht mehr essen können, das Essen zu riechen“, erzählt der Koch. Die Erfahrung hat die Hospizleiterin auch gemacht. „In meiner Ausbildung, habe ich auch mal für einen Gast Waffeln gebacken, sie konnte nicht mehr essen, aber hat den Duft der frisch gebackenen Waffeln sehr genossen.“
Die Arbeit in einem Hospiz ist oft nicht einfach. „Es ist wichtig, für sich die Mitte zu finden, Zeit für sich selbst zu nehmen“, erzählt Palliativ-Pfleger Jan Wand. Man braucht Bewältigungsstrategien. „Man muss sich wirklich bewusst machen, dass die Gäste todkrank ankommen, dann fällt es vielleicht etwas einfacher Grenzen zu ziehen. Man darf aber auch einfach mal weinen.“
Zurück in die Realität
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Beim Verlassen des Hospizes fühlt es sich so an, als würde man aus einer besonderen Sphäre zurück in die Realität treten. Dieser Ort ist nicht, wie oft angenommen, ein finsterer Ort des Sterbens, sondern ein lebensbejahender Kosmos, in dem Menschen bis zum letzten Atemzug Würde und Respekt erfahren.
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