Hans Frackowiak (94) hat „Bergbau noch mit Schaufel erlebt“ Sein Blog soll für die Ewigkeit bestehen

Hans Frackowiak (94) hat „den Bergbau noch mit Schaufel erlebt“
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In seinem Zimmer des Senioren-Wohnheims an der Glückaufstraße erinnert nichts an den Bergbau. Kein Bild, keine Barbara-Statue, keine Spur von Schlägel und Eisen. „Hab ich alles nicht mitgenommen, das brauche ich hier nicht“, sagt Hans Frackowiak. Sein Zimmer ist klein, er sitzt im Rollstuhl neben seinem Bett und schaut Fernsehen. Die Welt heute sei schnelllebig geworden, vom Bergbau spricht kaum noch jemand. „Da ist gar nichts mehr, wir haben aber noch den Erin-Turm“, sagt der 94-Jährige.

Bevor er aber mit der Schaufel die Kohle aus der Erde kloppen „durfte“, stand dem jungen Bergmannssohn aus Castrop-Rauxel eine lange, schwere Reise bevor. Sein Vater war arbeitslos geworden, ein Gymnasium, das damals noch Geld kostete, konnte sich die Familie nicht leisten. „Also ging ich auf die Adolf-Hitler-Schule, die gleichgestellt war mit den Gymnasien.“

Als 16-Jähriger wurde er dann allerdings auch für die Hitler-Jugend an die Front berufen, „um die neuen Schützengräben auszubuddeln“, sagt er – also an vorderste Front. Das konnte er nicht. „Ich war kein Nazi. Als ich im Urlaub in Schlesien hungernde Menschen gesehen haben, bin ich zu meiner Oma ins Haus gelaufen und habe einen Eimer Pellkartoffeln geholt“, erzählt Hans Frackowiak mit klarer Stimme. Er wurde damals Zeuge, wie Juden deportiert wurden. „Aber da kam ein SS-Soldat und hat getreten, sodass alle Kartoffeln auf dem Boden lagen, und hielt mir sein Maschinengewehr vor die Brust.“

Flucht von der vordersten Front

Und da er beim Ausbuddeln der neuen Gräben unbeobachtet war, fasste er den Entschluss zu desertieren, schmiss sein Maschinengewehr weg und flüchtete – über die Tschechei nach Bayern, wo er sich den Amerikanern stellte. Später erfuhr er, dass seine Familie nur 80 Kilometer entfernt untergekommen war. „Go to Mommy“, habe ein amerikanischer Soldat zu ihm gesagt, und zu Fuß machte er sich auf den Weg. Gemeinsam ging es von dort zurück nach Castrop-Rauxel, wo ihre Wohnung zerbombt war, wo aber ein neues Leben auf Hans Frackowiak warten sollte.

Zurück in der Heimat

Schule war keine Option mehr, also ging es als „Bergfremder“ unter Tage – mit 16 Jahren. „Und dieser Bergbau hat mir so gefallen, dass ich dabei geblieben bin.“ Nach seiner Ausbildung heuerte er bei „Deilmann-Haniel“ an, er hat Schächte abgeteuft – vom Ruhrgebiet bis nach Elsass-Lothringen.

„Dann habe ich aber eine Familie gegründet und wollte in Wohnort-Nähe arbeiten“, sagt Frackowiak. Und als er zur ersten Schicht zurück auf Erin war, begrüßten ihn die Kumpel mit einem herzlichen „Wie, bist du wieder hier?“. Fortan war er für den Vortrieb verantwortlich, suchte also neue Wege bis zur Kohle. „Und wenn der Staat dann kam, konnten wir zeigen, wie viel Kohle noch unter der Erde liegt. Wenn genug da war, gab es finanzielle Förderung.“ Monate, bevor auf Erin die letzte Schicht gefahren wurde, ging Hans Frackowiak in den Ruhestand, der Bergbau begleitete ihn sein ganzes Arbeitsleben.

Vor 15 Jahren: Hans Frackowiak geht seinem Hobby Schreiben nach.
Vor 15 Jahren: Hans Frackowiak geht seinem Hobby Schreiben nach. Mit 79 Jahren war er damals der älteste Blogger Deutschlands. © Foto: Nahamowitz

Das Vergessen der Bergbau-Geschichte sei ein Grund, warum Hans Frackowiak mit dem Bloggen angefangen und seine Erlebnisse unter www.castroper-geschichten.de aufgeschrieben hat. „Hinterlass‘ etwas für die Enkel und Urenkel“, habe er sich gedacht. Heute fühlt er sich bestätigt. „Aber wer spricht noch über die Weber, die unsere Kleidung angefertigt haben und über Schlosser, die eine Schraube angezogen haben“, fragt er mit kritischem Blick auf die heutige Gesellschaft. Das Bloggen musste er mittlerweile aufgeben, seinen letzten Post setzte er 2021 ab, als er gegen Corona geimpft wurde.

Ohne Mulvany kein Castrop-Rauxel

Warum man über die Bergleute sprechen sollte? Die Antwort gibt Hans Frackowiak selbst: „Ohne Mulvany würde es uns heute gar nicht geben.“ Denn der irische Unternehmer William Thomas Mulvany brachte den Bergbau in die Stadt, eröffnete Zeche Erin. Wie sich die 2500-Einwohner-Stadt Castrop-Rauxel (Stand 1874) wohl sonst entwickelt hätte...

Frackowiak bedauert es, dass der Bergbau in den Hintergrund rückt, er erlebte die glorreichen 1960er-Jahre unter Tage, als Personal dringend benötigt wurde und nicht nur Menschen aus ganz Deutschland, sondern auch aus Italien, Spanien oder Jugoslawien auf Erin anheuerten. „Und die Nachfahren der Migranten wollen doch auch über ihre Vergangenheit wissen“, meint er.

Ein altes Bild von der Zeche Erin
Die Zeche Erin wurde nach seiner Rückkehr wieder die Heimat von Hans Frackowiak. © Archiv

Seine Geschichten bestehen immerhin für die Ewigkeit, so hofft er. Von Weihnachten unter Tage, von einem lauten Knall, als er ein Rohr ausbauen wollte, es über ihm einen Bruch gab und er stundenlang unter Kohle und Steinen verschüttet war. Aber auch von alltäglichen Geschichten unter Tage. Sie werden ihn überleben, aber vergessen wird Hans Frackowiak durch sie nie.

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