Guido Kremer ist mit 18 Jahren Zuhause rausgeflogen „Es war eine Kurzschlussreaktion“

Versöhnung nach 35 Jahre langem Schweigen
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Nach 35 Jahren Funkstille erschien plötzlich der Name seines Vaters auf dem Handy von Guido Kremer. Er hatte fünf Videoanrufe bei Facebook verpasst. Zuerst dachte er an einen Fake. „Ich habe damals ausgerechnet, dass mein Vater schon über 80 sein müsste“, sagt der 56-jährige Castrop-Rauxeler. „Da rechnet man nicht damit, dass er bei Facebook ist.“ Doch der Mann, der ihn mit 18 vor die Tür gesetzt hatte, steckte wirklich dahinter.

Beim ersten Telefonat fragte er seinen Vater, was los sei. Der habe ihm mitgeteilt, dass seine Frau verstorben sei. Und, dass er – sein Sohn – das Einzige sei, was er noch habe. „Er hat gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, wieder Kontakt mit ihm zu haben.“ Zur ersten Aussprache verabredeten sie sich für ein Wochenende in der Eifel, wo sein Vater wohnt. Sie hatten viel zu besprechen. In den 35 Jahren ohne einander war ein halbes Leben passiert.

Keil zwischen Vater und Sohn

Es habe Zuhause Streitereien gegeben, erzählt Kremer. Es seien „ein paar unschöne Sachen passiert“. Wenn er spricht, dann mit kraftvoller Stimme. Sein Lachen ist laut und ansteckend. Zum Beispiel, wenn er über seinen Beruf als DJ und als Lkw-Fahrer spricht. Beim Gespräch über seine Familie wirkt er nachdenklich, und die Stimme wird sanfter. Er ist überwiegend in Köln aufgewachsen. In der Domstadt lebte er bei seinem Vater und dessen Partnerin. Seine Mutter war verstorben, als er sieben war.

Seine Stiefmutter habe es geschafft, einen Keil zwischen ihn und seinen Vater zu treiben, sagt Kremer. Sie habe Lügen verbreitet. „Zum Beispiel hat sie gesagt, ich würde mein Zimmer unordentlich hinterlassen. Ich würde von morgens bis abends laut Musik hören. Solche Sachen halt.“ Sein Vater habe tagsüber gearbeitet und konnte diese Dinge nicht mitbekommen.

Guido Kremer neben seinem LKW, im Hintergrund eine leere Straße.
Guido Kremer ist neben seinem Beruf als Lkw-Fahrer auch als DJ tätig. © privat

Tumult im Wohnzimmer

An einem Abend, als er 18 war, kam es im Wohnzimmer zum Tumult. Die Emotionen kochten hoch. Bei einem – zunächst verbalen – Streit habe es für seinen Vater offenbar den Anschein erweckt, er wolle auf seine Stiefmutter losgehen. Das habe er aber keinesfalls gewollt, sagt Kremer. „Weil er das falsch interpretiert hat, hat er mir mit seiner Hand an die Kehle gegriffen. Und ich habe mich dann nur gewehrt und ihm eins auf die Nase gegeben.“

Er sei nicht stolz darauf. „Es war eine Kurzschlussreaktion.“ Sein Vater sei in seinem Stolz verletzt gewesen. „Er hat dann kurzerhand entschieden: Ich habe meine Koffer zu packen und unverzüglich das Haus zu verlassen. Das habe ich dann auch gemacht.“ Seitdem hatten die beiden keinen Kontakt mehr. Seine Stiefmutter habe ihn einige Male kontaktiert, und gefragt, ob er wieder mit seinem Vater reden wollte. Doch er habe es stets abgelehnt. Die Fronten waren zu verhärtet.

Der Weg nach Castrop-Rauxel

Nach dem Rauswurf kam der junge Mann bei Bekannten unter. Da war er noch in seiner Lehre zum Lkw- und Busmechaniker. Die Ausbildung brach er ab. Er musste allein klarkommen und das Gehalt genügte nicht. Für einen Job als Zeitungsverkäufer, der von Tür zu Tür läuft, zog er von Köln nach Castrop-Rauxel. Dort lernte er in einer Jugend-Disco seine Lebensgefährtin Claudia Baumann kennen.

„Wie junge Leute sowas dann eben machen, gingen wir tanzen. Ich gab ihr eine Cola aus und dann folgte schon der erste Kuss.“ Die Musik und das Tanzen verbinden das Paar bis heute. Seit einigen Jahren legt Kremer nebenberuflich selbst als DJ auf. Bei Events oder in Clubs wirbelt seine Freundin dann gern über die Tanzfläche, und er sieht ihr gern dabei zu. Ohnehin liebt er es, Menschen mit Musik zum Tanzen zu bringen. Oft spielt er Schlager, hat aber je nach Anlass auch andere Stile im Repertoire.

„Du brauchst einen anderen Job.“

„Sie haute auf den Tisch und sagte, wenn wir zusammen bleiben wollen und du meine Eltern kennenlernen willst, brauchst du zuerst einen anderen Job“, erzählt Kremer von der Kennenlernphase. „Das konnte ich gut verstehen.“ Durch einen seiner Kunden wurde er an eine Gerüstbau-Firma vermittelt. Er lernte ihre Eltern kennen und baute ein gutes Verhältnis zu ihnen auf.

Zwei Jahre später nahm er seinen ersten Job als Lkw-Fahrer bei einer Spedition an, bevor er zum Geschäft seiner Freundin wechselte. Sie besaß ein Gewerbe, bei dem sie Eier, Wild und Geflügel auf dem Markt verkaufte. Er arbeitete als Fahrer, Verkäufer und Reparateur. Das Paar betrieb das Geschäft 14 Jahre, bis Baumann schwer erkrankte. „Ich musste dafür sorgen, dass sie wieder gesund wird“, sagt Kremer. „Also konnte ich mich nicht mehr um das Geschäft kümmern.“ Heute fährt er wieder für eine Spedition. Mit seinem knapp 7,5 Tonnen schweren Lkw ist er meistens innerhalb Nordrhein-Westfalens unterwegs. Nach ihrer Erkrankung geht es ihr wieder viel besser und die beiden leben zusammen in Castrop-Rauxel.

Guido Kremer hinter einem DJ-Pult
Guido Kremer liebt Musik, nicht nur zum Hören, sondern auch um andere Menschen mit ihr zu begeistern. © Guido Kremer

„Ich möchte erstmal einen Vater haben.“

Die Anrufe seines Vaters erreichten ihn in seiner neuen Heimat und nach all den Jahren völlig unvorbereitet. Auf dem Weg zu dem ersten Treffen in der Eifel war er trotzdem nicht besonders aufgeregt, spürte sogar Vorfreude. Er war einverstanden, wieder eine Beziehung mit seinem Vater aufzubauen. Aber nicht, ohne vorher über das zu sprechen, was vor 35 Jahren geschehen war. Und das taten sie. „Wir haben alles Revue passieren lassen. Aber ohne jedes Detail noch einmal durchzugehen. Wir haben darüber gesprochen, dass wir alle Fehler gemacht haben.“ Sein Vater habe den Fehler eingeräumt, ihn vor die Tür gesetzt zu haben. Schließlich hätten sie beschlossen, zusammen von Neuem zu beginnen. Früh begann „der alte Herr“, über sein Erbe zu sprechen. Doch der Sohn wollte zunächst nichts davon hören. „Ich habe ihm gesagt, dass ich erstmal einen Vater haben möchte.“

Über Weihnachten lud er seinen Vater zu sich und seiner Frau ein, was allen sehr gutgetan habe. Seitdem haben sie sich oft getroffen und haben mittlerweile wieder einen „sehr guten Kontakt“ miteinander. Es stimme übrigens nicht, dass sein Vater außer ihm nichts habe. Im Alltag werde er zum Beispiel von einem guten Freund unterstützt. Und ihm sei gleich aufgefallen, dass „der alte Herr“ deutlich besser aussah, als er erwartet hätte.